Börsenäquivalenz. Bis vor kurzem kannte kein Mensch dieses Wort. Nun aber ist es zum Synonym geworden für Erpressung und Brüsseler Boshaftigkeit.
Die EU will den Schweizer Börsen die Äquivalenz nur für ein Jahr zugestehen. Das heisst: Händler aus der EU dürfen an den Schweizer Börsen noch bis Ende 2018 Aktien kaufen und verkaufen – was danach kommt, steht in den Sternen des EU-Banners. Genauer: Brüssel macht eine unbefristete Anerkennung der hiesigen Börsen davon abhängig, dass es mit dem Rahmenabkommen vorwärtsgeht.
Rahmenabkommen. Streitbeilegungsmechanismus. Weitere Wortungetüme, unter denen sich kein Mensch etwas vorstellen kann. Die SVP übersetzt das Ganze sehr frei mit «Fremde Richter». Dies ist nun in der Tat eine gut eingeführte, griffige Formulierung. In erster Linie aber eine Formel, die Angst machen soll.
Aus Angst vor der SVP haben die übrigen Akteure in Bundesbern in den vergangenen Jahren denn auch alles unternommen, um bloss keine EU-Debatte führen zu müssen.
Zwar lässt der Bundesrat die Beamten des Aussendepartements seit 2014 mit Brüssel über einen Rahmenvertrag verhandeln. Dies freilich nur der Form halber.
In Wirklichkeit setzten Landesregierung und Bundesverwaltung unmissverständlich auf eine Politik des Vorsichhinwurstelns.
Konkret präsentierte sich die EU-Strategie der Mehrheit im Bundesrat bis Anfang dieser Woche wie folgt: Zunächst wollte man abwarten, wie sich die Sache mit dem Brexit entwickelt.
Dann wollte man abwarten, bis die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative der SVP über die Bühne ist. Diese nimmt die «Fremden Richter» ins Visier und dürfte spätestens Anfang 2019 zur Abstimmung gelangen. Das Kalkül der Mehrheit im Bundesrat: Dank des Supports der Zivilgesellschaft und weil sich die EU während des Abstimmungskampfs bestimmt handzahm gibt, würde die Vorlage abgelehnt – womit die SVP europapolitisch schachmatt gesetzt wäre.
Dann wollte man abwarten, bis die Wahlen 2019 vorbei sind.
Dann, ja dann aber, würde der Bundesrat aus der Deckung gehen und das Verhältnis zur EU mit einem Rahmenabkommen regeln.
Die EU hat diesem Wunschdenken ein brüskes Ende versetzt. Natürlich verleiht sie mit ihrer Machtdemonstration den isolationistischen Kräften in der Schweiz gewaltig Schub. Am Ende dieser Woche ist es kaum vorstellbar, wie sich Herr und Frau Schweizer je für eine Annäherung an die Union erwärmen lassen.
Vor diesem Hintergrund hat Bern gar keine andere Wahl, als in die Offensive zu gehen. Weil Wursteln ab sofort keine Option mehr ist, muss der Bundesrat endlich eine seriöse, aktive Europapolitik betreiben.
Wenn der neue Aussenminister jetzt die Errichtung eines Staatssekretariats für Europafragen plant, ist dies in jedem Fall ein Anfang.
Vor allem aber muss Ignazio Cassis in einen permanenten Dialog mit den Stimmbürgern treten und ihnen die Interessen, Möglichkeiten und Grenzen der Schweiz in Europa deutlich machen. Dazu gehört, dass Cassis klaren Wein einschenkt und aufzeigt: Wenn die Schweiz mit den Staaten der EU weiter gute Geschäfte machen möchte, kann sie sich den Spielregeln eben dieser EU nicht auf ewig vollkommen entziehen.
Ob Cassis das Format dazu hat? Bislang hätte man es ihm nicht zugetraut. Und ja, die Rechte setzt ihn gehörig unter Druck. Ebenso klar ist jedoch: Der Mann hat die historische Chance, die Schweizer Europapolitik zu gestalten, anstatt nur eine abgewrackte Wursterei zu verwalten. Zu wissen, dass man sich nicht mehr hinter dem Ofen verstecken kann – diese Ausgangslage bietet etwas ungemein Befreiendes!
Bei allen Schwierigkeiten, welche die Bescherung aus Brüssel kurz- und mittelfristig verursacht: Vielleicht ist Weihnachten 2017 auch der Zeitpunkt, da die Schweiz – Überraschung! – einen grossartigen Aussenminister erhält.