Das meint SonntagsBlick
Je wertvoller die Arbeit, desto weniger darf sie kosten

Publiziert: 16.12.2017 um 23:47 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 21:40 Uhr
Gieri Cavelty
Gieri Cavelty: Chefredaktor SonntagsBlick
Foto: Paul Seewer

Diese Zahlen hat das Bundesamt für Statistik soeben veröffentlicht: Im letzten Jahr wurde hierzulande 9,2 Milliarden Stunden lang gratis gearbeitet. Das sind über eine Million Jahre respektive 1320 Stunden pro Einwohnerin und Einwohner. Demgegenüber schlägt bezahlte Arbeit nur mit 7,9 Milliarden Stunden zu Buche.

Der «Tages-Anzeiger» hat die Meldung kommentiert. «Freiwilligenarbeit ist nicht selbstverständlich», schreibt die Zeitung. Und: «Freiwilligenarbeit ist ein Pfeiler des Zusammenlebens.»

Das ist gut gemeint. Weil aber konsequent von «Freiwilligen­arbeit» die Rede ist, erreicht der Kommentar das Gegenteil dessen, was er bezweckt: Hier wird ein grosses Thema kleingeschrieben.

Freiwilligenarbeit: Das klingt nach Freizeit. Und wo Freizeit ist, lässt das Vergnügen selten auf sich warten.

An der Eingangstür einer Stadtberner Kindertagesstätte hängt ein Zettel mit der Aufschrift: «Liebe Eltern, wir haben MagenDarm-Grippe in der Gruppe!»

Frage: Wie freiwillig handelt eine Mutter, die ihren Sohn nicht in die Kita bringt und stattdessen im Büro einen freien Tag bezieht?

Frage: Wie freiwillig handelt ein Vater, der seine kranke Tochter pflegen muss, weil er sie tags zuvor trotz Warnung in die Kita gebracht hat, um weiter im Büro arbeiten zu können?

Und wo, bitte schön, liegt die Freiwilligkeit, wenn eine Frau den bettlägerigen Ehemann zu Hause pflegt, weil dieser ansonsten verkümmern würde?

Herr und vor allem Frau Schweizer haben im vergangenen Jahr 9,2 Milliarden Stunden Gratis­arbeit geleistet. Doch nur ein Bruchteil davon war wirklich
freiwillig.

Die Basler Ökonomin Mascha Madörin spricht von «Leben erhaltenden, lebensnotwendigen Tätigkeiten, ohne die Gesellschaften nicht existenzfähig wären und wirtschaftliches Wachstum unmöglich wäre».

Die Soziologin Gabriele Winker sagt: Weil die Pflege von Angehörigen keine Anerkennung als Arbeit erfährt, werden die Pflegeberufe in Spitälern und Alters­heimen so miserabel entlöhnt.

In der Tat erscheint es willkürlich, welche Arbeit als wertvoll und damit als bezahlbar oder wenigstens förderungswürdig eingestuft wird und welche eben nicht.

Immerhin: Wirtschaftsredaktor Moritz Kaufmann schreibt in der aktuellen Ausgabe des SonntagsBlick, dass man in der Wirtschaft neuerdings darüber nachdenkt, wie sich Erwerbstätigkeit und Pflegearbeit für Familienangehörige besser vereinbaren lassen. Weil die Leute zwischen Job und Familienarbeit zerrieben werden, droht der Wirtschaft irgendwann das Personal auszugehen.

Gefährdet sind ausgerechnet jene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die über Einfühlungsvermögen verfügen und die auch bereit sind, sich bei der Arbeit ganz
besonders einzusetzen. Anders gesagt: Fehlen werden die Besten.

Wirklich freiwillig ist also auch das langsam erwachende Engagement der Wirtschaft nicht.

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