Liebe Leserin, lieber Leser
Der prominente Pädagoge und Publizist Jürg Jegge hat Jugendliche sexuell missbraucht. Er rechtfertigt sein Handeln mit dem Zeitgeist: Man sei in den 1970er-Jahren nun einmal anderen Moralvorstellungen gefolgt.
Die ungeheuerlichen Taten sollen nun also mit ungeheuerlichen Worten entschuldigt werden. Oder eben: gerade nicht entschuldigt werden!
Gewiss: An den Fransenwesten der 68er haftet ein hässlicher Fleck. Im Zuge der sexuellen Befreiung wollten manche auch den Kindsmissbrauch gesellschaftsfähig machen. Wir kennen die Debatte aus Deutschland. Am bekanntesten sind die 1975 in einem Buch veröffentlichten päderastischen Fantasien von Daniel Cohn-Bendit, dem Anführer der Studentenrevolte vom Mai 1968 in Paris.
Diese Verirrungen der linksalternativen Bewegung müssen endlich umfassend aufgearbeitet werden. Insgesamt aber blieb die pädosexuelle Bewegung auch innerhalb der Neuen Linken eine Randerscheinung. Niemand will behaupten, alle 68er seien Kinderschänder. So einfach kann sich der eloquente Jürg Jegge da nicht herausreden. Es ist kein Zufall, dass er seine Pädosexualität im Verborgenen auslebte und die Opfer unter massiven psychischen Druck setzte.
Gewiss ist auch: Pädosexuelle hat es immer gegeben. Immer suchten, noch immer suchen sie die Nähe potenzieller Opfer. Sie begegnen den Kindern als Priester oder Lehrer, als Fussballtrainer oder lustiger Onkel. Und dann gibt es da das Beispiel von Stefan George. Der deutsche Dichter begründete vor über hundert Jahren eine Sekte, deren Zweck darin bestand, dem Guru Jünglinge als Sexobjekte zuzuführen.
Der grosse deutsche Soziologe Max Weber beschrieb Stefan George in den 1920er-Jahren als Prototyp eines «Charismatikers» – eines Manipulators, der von seinen Anhängern «gläubige, ganz persönliche Hingabe» fordert. Womit sich der Kreis zu Jürg Jegge schliesst: Auch Jegge war mehr als ein gewöhnlicher Päderast. Er agierte als Charismatiker, der anderen seinen Willen aufzwingt. Nur so ist zu erklären, dass ihm sein Opfer Markus Zangger noch als Erwachsener hörig war.
Überhaupt dürfen bei all den ausführlichen Betrachtungen der Täter die Opfer nicht vergessen werden! SonntagsBlick-Leser werden sich an den Fall von Philipp Gurt erinnern. Der Bündner wurde als Kind in den 1970er-Jahren sexuell missbraucht. Die Schlagzeilen zur Causa Jegge reissen in ihm nun unvermittelt die kaum verheilten Wunden von damals wieder auf. Für SonntagsBlick schildert Philipp Gurt, wie er den aktuell diskutierten Fall von Pädokriminalität erlebt. Lesen Sie unbedingt seinen offenen Brief an Jürg Jegge!
Dennoch wünsche ich Ihnen einen schönen Sonntag
Gieri Cavelty