Nach 40 Jahren hat sich unsere ehemalige Primarschulklasse getroffen, im gleichen Schulhaus, im gleichen Schulzimmer, in dem wir damals, Ende der 1970er-Jahre, an unseren Plätzen sassen, während die Lehrerin versuchte, uns etwas beizubringen. Es war eine Reise durch die Zimmerflucht der Zeit. Die Lehrerin hatte alte Aufsätze mitgebracht, als besondere Form der Folter, und zeigte uns einen Vertrag, mit dem wir uns verpflichtet hatten, während des Unterrichts nicht zu singen, nicht zu schreien oder Gegenstände herumzuwerfen.
Wir tragen die Gesichter von damals
Eine Präsentation aus Klassenfotos führte uns die Gesichter der Kinder vor, die wir damals gewesen waren, Schulausflüge, die wir erlebt, und Gemeinheiten, die wir ausgetauscht hatten. Dabei konnten wir sehen, dass wir die Gesichter von damals bis heute mit uns tragen, unter der Oberfläche der körperlichen Alterung. Eine Handbewegung, ein Ausdruck in den Augen, und alles ist wieder da.
Beim Abendessen dieselbe Vertrautheit, als hätte man einen Raum betreten, in dem die Beziehungen nicht altern. In dem der Austausch von Erinnerungen und Gedanken, auch an die Toten, für immer fortdauern könnte. Und schliesslich, bei den Drinks an der Bar, die späten Geständnisse: «Ich war damals in dich verliebt.» – «Nein, ich habe diese Hobelbank nicht zerstört.» – «Ich habe beim Metzger ein Kuhauge besorgt und es dir in die Jackentasche gesteckt.»
Alle werden wieder entschwinden
So ein Abend ist wie das Eintauchen in jene Unmittelbarkeit, mit der man früher die Welt empfunden und an sich herangelassen hat. Ein Eintauchen in Beziehungen, die an einem ganz anderen Ort angesiedelt sind als das Erwachsenenleben, auf einem separaten Stockwerk, geschützt vor den Zumutungen der Zeit. Obwohl gerade an einem solchen Abend das Bewusstsein der Vergänglichkeit besonders stark ist, weil man weiss, dass zum Schluss alle wieder in ihren Alltag entschwinden.
Ich selber musste später an den Philosophen Søren Kierkegaard denken, der einmal gesagt hat, ein bewusst gelebter Augenblick sei wie das Augenblinzeln der Ewigkeit. Eine Gegenwart, in der man sich vollkommen aufgehoben fühlt.
Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Sein Buch «Das therapeutische Kalifat» erschien im Fontis Verlag, Basel. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.