In den letzten Jahren gab es in mehreren Kantonen Versuche, bei den Schwachen zu sparen und Sozialleistungen zu kürzen. Zuletzt scheiterte dies in Bern, wo die Stimmberechtigten ein klares Zeichen für den Sozialstaat setzten. Deswegen werden die Forderungen nach weniger Sozialleistung aber nicht verstummen.
Einige Argumente für strengere Kontrollen kann ich nachvollziehen. Mein italienischer Vater hat sein Leben lang für Tiefstlöhne auf Baustellen geschuftet, meine spanische Mutter als Putzfrau. Es wäre ihnen deswegen nie in den Sinn gekommen, Arbeit abzulehnen und vom Staat zu leben. Ich verstehe jene, die keine «falschen Anreize» setzen wollen, um zu verhindern, dass das System von Leuten missbraucht wird, die sich lieber aushalten lassen, statt etwas zu leisten. Solidarität ist keine Einbahnstrasse: Wer die Solidargemeinschaft täuscht und ausnützt, kann von ihr keine Leistungen verlangen.
Aber schwarze Schafe gibt es überall. Der Sozialstaat ist nicht erst dann richtig und verteidigungswürdig, wenn man ihn nicht mehr missbrauchen kann. Wer in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, die Missbrauchsanfälligkeit eines Systems spreche gegen dieses, oder wer den Anschein erweckt, er könne die Gesellschaft verbessern, indem er auf jene Druck ausübt, die sich am wenigsten wehren können, der täuscht die Menschen. Ja, er provoziert eine neue soziale Kälte. Er vertritt eine Moral der Geschäftigen und Leistungsfähigen, die auf das Recht des Stärkeren hinausläuft.
Das menschliche Niveau einer Gesellschaft misst sich nicht nur am Umgang mit den Bedürftigen und Untauglichen, sondern auch am Umgang mit den Täuschern und Betrügern. Schwarze Schafe muss man aushalten, statt sie für die eigene Ideologie zu instrumentalisieren. Wir müssen sogar die ganz grossen schwarzen Schafe unter uns aushalten: die Räuber, Betrüger und Egoisten in den oberen Etagen der Macht. Auch wenn sie uns im Namen freier Märkte schon milliardenfachen Schaden zugefügt haben, dürfen wir deswegen nicht die Idee des freien Markts aufgeben. So wenig wie uns der kleine Schmarotzer dazu bringen darf, Solidarität und Sozialstaat aufzugeben.
Giuseppe Gracia (51) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Sein Buch «Das therapeutische Kalifat» ist erschienen im Fontis Verlag, Basel. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.