#aufbruch mit Patrizia Laeri
Psychologischer Notstand

Ich bin gestern in Tränen ausgebrochen. Auch vorgestern und die Tage zuvor. Einfach so. Die Welt schien zu zerfliessen und ich mit ihr. Das Herz zieht sich zusammen, und übrig bleibt nichts als Angst. Ich habe Angst. Mein Nachbar hat Angst. Die Welt hat Angst.
Publiziert: 31.03.2020 um 23:30 Uhr
Kolumnistin Patrizia Laeri über Hilfe gegen die Corona-Depression.
Foto: Thomas Buchwalder

Und wenn Sie es gerne in Zahlen mögen: Die Italienerinnen und Italiener hat man eine Woche nach der Corona-Ausgangssperre schon befragt. 93 Prozent spürten Angst. 42 Prozent fühlten sich gar sehr schlecht. Haben Sie schon mal mit einem Psychologen gesprochen? Ich habe es getan. Virtuell. Ich bin in Corona-Psychotherapie. Das Gute vorneweg: Jeder kann das zurzeit sofort, anonym und kostenlos tun.

Online-Hilfe für die Seele, psychologische Online-Trainings, darauf haben sich eine ganze Reihe europäischer Start-ups spezialisiert. Auf Deutsch bieten beispielsweise Selfapy und HelloBetter bereits spezielle Corona-Psychotherapien an, zusammen mit Universitäten hat man sie entwickelt. Alles ist via Smartphone bedienbar. Für mich wäre die Hemmschwelle sehr gross, eine passende Psychotherapeutin zu finden. Ich wollte einfach schnell und von zu Hause aus meinen Zustand begreifen. Wieder ein wenig Kontrolle über mein Leben erlangen. Erste Hilfe per Click.

Vieles dreht sich bei den Apps rund um die mentale Gesundheit um Dinge, die man vielleicht schon weiss und anwendet. Klar weiss man, dass der geregelte Tagesablauf Halt gibt, auch zu Hause. Und man ist sich bewusst, dass innere Anspannung sich auch auf Muskeln überträgt und den Körper verspannt. Trotzdem tun die visualisierten Anti-Stressübungen gut, lockern und dehnen den Körper. Yoga eben, das in dieser Zeit wohl für alle sehr hilfreich wäre.

Ich werde auch daran erinnert, nicht im Bett zu arbeiten, da das Abschalten noch schwerer wird. Aber die Online-Therapie geht viel weiter. Wie könnten wir beispielsweise unseren Kindern helfen, heil durch die Krise zu kommen? Auch Kinder haben nämlich Stress und sind vielleicht anhänglicher, ängstlicher, wütender als gewöhnlich. Ich bin dankbar, dass ich mir in einem ersten anonymen Schritt begleitet Gedanken machen kann.

Aber kommen wir zum eigentlichen Kern unseres Stresses, auf den die Corona-Therapien alle klar hinweisen. Es ist diese Reizüberflutung, dieser nicht enden wollende News-Fluss des Schreckens und Todes. Soziale Medien stressen zusätzlich. Es gilt also, sich klar Grenzen zu setzen. Sich beispielsweise nur morgens und abends, während klarer Zeitfenster auf den neusten Stand zu bringen. Vielleicht sogar Push-Meldungen abschalten. Als Journalistin klingt das natürlich fast nach Berufsverbot. Und ich tu mich schwer damit.

Andere Probleme habe ich gelöst. Die Universität Zürich bietet auch eine kostenlose Therapie für Corona-Zeiten. Eine Paartherapie, genannt Paarlife. «Hören Sie Ihrem Partner zu, geben ihm Raum, sich auszusprechen, reden ihm gut zu und machen ihm Mut?», lautet eine Frage. Ich muss verneinen, so beschäftige ich mich ja nur mit mir selber. Schon beim Fragebogen merke ich, dass mein Problem nicht der Partner ist, sondern ich selbst und dass ich zuerst lernen muss, meinen eigenen Corona-Stress zu bewältigen.

Vor allem in nordischen Ländern und Grossbritannien sind ergänzende virtuelle Therapien längst Alltag. Sowohl Universitäten als auch Start-ups konnten in vielen Studien nachweisen, dass Online-Psychotherapie tatsächlich funktionieren kann. Genau deswegen sind die Angebote beispielsweise in Schweden, Niederlanden, Deutschland schon ins Gesundheitswesen integriert, und viele Kassen unterstützen die Online-Hilfe. Nicht so in der Schweiz.

In der Schweiz unterschätzen wir, wie sehr das Virus auf der Seele lastet. Die Politik und Gesellschaft haben anerkannt, dass die Krise gesundheitlich und wirtschaftlich eine schwere ist und entsprechend aussergewöhnlich reagiert. Jetzt geht es darum, anzuerkennen, dass die Seuche auch psychologisch schwer wiegt. Je länger diese Zeit dauert, desto grösser die Gefahr. Eine traumatisierte Gesellschaft hat keine Kraft, wieder aufzustehen.

In Italien spricht das Gesundheitsministerium längst von einem psychischen Corona-Notstand und bietet allen Bürgerinnen und Bürgern kostenlose psychologische Beratungen online an. 9000 Psychologen sind darin eingebunden und unterstützen telefonisch oder per Video. Niemand muss alleine durch diese Krise. #aufbruch

* Patrizia Laeri (42) ist Wirtschaftsredaktorin und -moderatorin von «SRF Börse» und «Eco» sowie Beirätin im Institute for Digital Business der HWZ. Sie schreibt jeden zweiten Mittwoch für BLICK.

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