Analyse zum Wahlsonntag von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Die Politiker machen es sich heute zu bequem

Der Gestaltungsspielraum der Politik mag ja schrumpfen. Dass im Bundeshaus aber im Vornherein schon jegliche Denkarbeit schlicht verweigert wird: Das geht gar nicht – und passiert doch.
Publiziert: 19.10.2019 um 23:29 Uhr
|
Aktualisiert: 21.10.2019 um 14:30 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Paul Seewer
Gieri Cavelty.jpg
Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Die Macht leidet an Schwindsucht. Seit 1969 taucht das Wort «Macht» in den deutschsprachigen Zeitungen von Jahr zu Jahr seltener auf.

Tatsächlich regiert heute zunehmend: die Ohnmacht.

Alles ist miteinander vernetzt. Immer grösser sind die Abhängigkeiten und vermeintlichen Sachzwänge, immer kleiner scheint der Spielraum der Politik. Als ob das nicht genug wäre, türmt sich nun die Klimakrise vor uns auf. Der Menschheit, so hören wir es täglich, entgleitet vollends die Kontrolle über die Welt.

Ohnmacht frustriert. Und es gibt Politiker, die genau diese Frustration ansprechen, wenn sie die Wiederkehr der alten Macht(-verhältnisse) verheissen. «Take back control», lautete das Motto der Brexit-Befürworter vor drei Jahren. Donald Trump versprach zur gleichen Zeit in seinem Wahlkampf, Amerika wieder gross zu machen.

Slogans sind das eine, deren Verwirklichung etwas ganz anderes. Der Brexit ist und bleibt total out of control, wie der gestrige Tag gezeigt hat. Derweil sieht sich der US-Präsident bei der Amtsausübung von finsteren Mächten behindert. «Sie versuchen, mich zu stoppen», klagt er auf Twitter.

Das Gefühl von Ohnmacht ist für viele Politiker freilich auch ein Vorwand, um die eigene Fantasielosigkeit zu kaschieren.

Eines der wichtigsten innenpolitischen Themen der kommenden Legislatur ist die Finanzierung der AHV. Die Debatte dreht sich aber immer nur um die Erhöhung des Rentenalters. Herr und Frau Schweizer werden immer älter, sagen die Befürworter und leiten daraus als angeblichen Sachzwang ab: Es gibt nun einmal keine andere Lösung!

Es lohnt sich, einmal einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der AHV zu werfen. Als das System der Alters- und Hinterlassenenversicherung seinerzeit konzipiert wurde, präsentierte der Bundesrat – damals sicher nicht weniger bürgerlich als heute – einen ganzen Strauss möglicher Geldquellen. Neben der Tabaksteuer, die am Schluss zur Finanzierung effektiv herangezogen wurde, gab es auch Vorschläge für die Verwendung von Zolleinnahmen, das Anzapfen der Biersteuer sowie die Einführung einer Erbschaftssteuer.

Ähnlich kreative Ideen, damit der AHV bei gleichem Rentenalter weiterhin genügend Mittel zur Verfügung stehen, gibt es auch heute. Beispielsweise die Schaffung einer Mikrosteuer auf Finanztransaktionen. Allerdings stammt dieser Vorschlag nicht aus dem Bundeshaus. Ersonnen haben sie ein pensionierter Banker, ein Finanzprofessor der Uni Zürich, ein Computerprofessor der ETH sowie der frühere Bundesratssprecher Oswald Sigg. Eine entsprechende Volksinitiative dürfte Ende Jahr lanciert werden.

Der Gestaltungsspielraum von Regierung und Parlament mag ja schrumpfen. Dass im Bundeshaus jedoch von Vornherein jegliche Denkarbeit schlicht verweigert wird, so wie dies bei der AHV passiert: Das geht gar nicht.

Wir Stimmbürgerinnen und Stimmbürger gehen heute Sonntag ja auch fleissig an die Wahlurne und machen nicht einfach allesamt blau.

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.
Fehler gefunden? Jetzt melden

Was sagst du dazu?