Kolumne «Weltanschauung»
Der Patient als Künstler

Das Museum im Lagerhaus St. Gallen widmet dem sehr ungewöhnlichen Künstler Ovartaci eine Ausstellung. Sie gibt Einblicke in die Welt eines Mannes, der sein Leben fast ausschliesslich in psychiatrischen Anstalten verbrachte.
Publiziert: 24.11.2019 um 23:11 Uhr
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Giuseppe Gracia

Zurzeit präsentiert das Museum im Lagerhaus St. Gallen einen sehr ungewöhnlichen Künstler namens Ovartaci. Mit bürgerlichem Namen Louis Marcussen (1894–1985), gab sich Ovartaci in den 1930er-Jahren diesen Künstlernamen, der im jütländischen Dialekt «Ovartossi» lautet, was so viel bedeutet wie «Ober-Idiot».

Der zum Maler und Dekorateur ausgebildete Ovartaci hat 56 Jahre in psychiatrischen Anstalten verbracht, aufgrund seelischer Erkrankungen, vermutlich in Zusammenhang mit halluzinogenen Drogen. Zeitlebens beschäftigten Ovartaci die Themen Identität und Trans­formation, festgehalten in wunderschön gemachten weiblichen Figuren und Puppen, kleinen bis lebens­grossen, aus Papier und Karton.

Er versuchte, sich selber zu kastrieren

Es sind Werke voller Sehnsucht nach Frauengestalten. Ovartaci hat sich in seinem Körper unwohl gefühlt. Er wollte sich den Penis abschneiden: Zuerst versuchte er es ohne Erfolg mit einer Rasierklinge, dann erfolgreich mit einem Meissel in der Schreinerei des Krankenhauses. Ovartaci glaubte, dass die Frau das erhabene und schöne Geschlecht sei, und so zeigen viele seiner Visionen Frauen im alten China, in Ägypten, auf dem Mond oder als Schmetterlinge.

Der «Ober-Idiot» wurde berühmt

Im täglichen Umgang wurde Ovartaci von Ärzten und Insassen als «bunter Hund» und «Primadonna» geschätzt, auch wenn er oft «unruhig und verstört» wirkte. Ovartaci verkaufte viele seine Werke nicht nur ans Klinikpersonal, sondern auch an Interessierte aus der Umgebung. Die Ärzte unterstützten seine Arbeit, so dass der «Ober-Idiot» bald über die Landesgrenzen hinaus bekannt wurde. Gegen Ende seines Lebens distanzierte er sich von vielen seiner Werke und nahm wieder seinen bürgerlichen Namen Louis Marcussen an.

Die Ausstellung in St. Gallen gibt Einblicke in die faszinierende Welt dieses Mannes. Einblicke in ein Künstlerleben, das fast ausschliesslich ein Anstaltsleben gewesen ist. Und das an die Worte des Schriftstellers Oscar Wilde (1854–1900) erinnert: «Alle Kunst ist zugleich Oberfläche und Symbol. Wer unter die Oberfläche dringt, tut es auf eigene Gefahr.»

Giuseppe Gracia (52) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.

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