Gopfried Stutz
Danke, Pierin Vincenz!

Bis 2014 unterlagen Genossenschafter von Raiffeisen einer Nachschusspflicht. Die wenigsten wussten davon.
Publiziert: 22.01.2022 um 17:08 Uhr
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Aktualisiert: 22.01.2022 um 20:37 Uhr
Pierin Vincenz hat die Nachschusspflicht abgeschafft. Und Raiffeisen «too big to fail» gemacht.
Foto: Keystone
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Claude ChatelainKolumnist und Wirtschafts-Publizist

Wenn am Dienstag der Prozess gegen Pierin Vincenz beginnt, wird viel über mysteriöse Millionenzahlungen, gewerbsmässigen Betrug, Interessenkonflikte, überrissene Spesen und womöglich sogar über Puffbesuche die Rede sein. Doch für eine bestimmte Massnahme, die der ehemalige Raiffeisen-Chef zu verantworten hat, wird er nicht belangt, obschon sie für uns Steuerzahlende von erheblicher Bedeutung ist.

Gewiss, die Massnahme, von der hier gleich die Rede sein wird, ist juristisch unproblematisch. Mehr noch: Der tief gefallene Bankmanager wurde von seinesgleichen für diese Tat sogar gelobt.

Was viele nicht wissen: Die Raiffeisen-Gruppe ist nicht ein Konzern mit ganz vielen Filialen. Sie ist vielmehr ein Bankenverbund mit zahlreichen, juristisch unabhängigen Genossenschaften, die vertraglich miteinander verbunden sind.

Was erst recht manche nicht wissen und vor allem früher nicht wussten: Die Genossenschafter waren bis 2014 verpflichtet, Nachschüsse von bis zu 8000 Franken zu leisten, sofern das Genossenschaftskapital nicht mehr gedeckt war.

Will man eine Hypothek abschliessen oder einen Kredit aufnehmen, muss man Genossenschafter werden. Auch anderen Bankkunden wurde die Zeichnung von Anteilscheinen schmackhaft gemacht, ohne dass sie auf diese Nachschusspflicht aufmerksam gemacht wurden. Man ging eben davon aus, dass die Klausel im Kleingedruckten toter Buchstabe sei.

Man zeichnete also einen Anteilschein von zum Beispiel 200 Franken, hätte aber im Extremfall 8000 Franken hinblättern müssen.

Die Pleite der Spar- und Leihkasse Thun Anfang der Neunzigerjahre lag weit zurück und war aus dem Gedächtnis verdrängt worden. Erst die staatliche Rettung der UBS im Jahr 2008 offenbarte, dass eben doch möglich war, was viele nicht für möglich hielten.

«Hat Vincenz die Bodenhaftung verloren?», schrieb ich am 1. Februar 2012, also noch bevor der Blender seine öffentliche Gunst verspielte. Ich kritisierte damals die Übernahme von Kundenvermögen der ins Visier der US-Justiz geratenen Bank Wegelin und andere Eskapaden des Raiffeisen-Chefs. Und machte eben auch auf die genannte Nachschusspflicht aufmerksam.

«Sie haben uns mit Ihrem Artikel schwer geschadet», sagte mir darauf der Kommunikationschef von Raiffeisen, der extra von St. Gallen nach Bern gefahren war. Nicht die Kritik an Vincenz rügte er, sondern die Warnung vor der Nachschusspflicht, die völlig irrelevant sei und dereinst abgeschafft würde, was dann zwei Jahre später tatsächlich erfolgte.

Und so hat Pierin Vincenz dafür gesorgt, dass im Notfall nicht mehr die Genossenschafter, sondern die Steuerzahlenden einspringen müssen. Vincenz hat Raiffeisen «too big to fail» gemacht.

Und wenn wir schon beim Thema «Too big to fail» sind: Da die Credit Suisse von einem Skandal in den andern stolpert, wurde etwa kolportiert, sie könnte von der UBS übernommen werden. Das darf nun wirklich nicht ernst gemeint sein.

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