Frank A. Meyer – Die Kolumne
Welt-Gewissen

Publiziert: 29.03.2020 um 12:16 Uhr
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Frank A. Meyer

Die «NZZ am Sonntag» fragte Lukas Bärfuss in einem Interview: «Sind Sie das moralische Gewissen der Schweiz?» Der Schriftsteller antwortete: «Das hoffe ich nicht.»

Welch eine Frage! Welch eine Antwort! Verstiegener gehts nimmer.

Jetzt nimmt sich Lukas Bärfuss erneut der Schweiz an. In einem Essay für das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» schimpft der Dramatiker und Roman­cier wie ein Rohrspatz über mangelhafte Regierungsmassnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus und schleudert den Verantwort­lichen im Bundeshaus ent­gegen:

«Die meisten werden nicht an einem Virus aus China sterben, ersticken werden sie an der helvetischen Ausprägung der menschlichen Dummheit.»

Bärfuss steigert sich zu dem vernichtenden Urteil:

«Das Kapital hat nichts zu befürchten, der Mensch schon.»

Ist das ein gescheiter Satz? Er ist die Quintessenz linken Denkens: Schuld ist immer das Kapital, denn das Kapital ist die Macht, die hinter allem steckt. Wer politisch handelt wie der Bundesrat, handelt im Interesse des Kapitals. Ja, er wird gesteuert durch das Kapital und seine Kapitalisten.

Der Aufschrei des versierten Polemikers ist auch ein verzweifelter Seufzer, denn wie es bereits in Matthäus 12, 34 heisst: «Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.» Bei allem Verständnis für das kreative Temperament von Lukas Bärfuss muss jedoch die Frage gestellt werden: Verhält es sich mit der Macht des Kapitals – also mit dem von Marxisten behaupteten Primat der Ökonomie – in der Corona-Katastrophe nicht genau umgekehrt?

Hat im Fall der Virus-Pandemie nicht gerade die Gesundheit das Primat? Die Gesundheit der Menschen? Vor dem Kapital, vor der Ökonomie?

Ohne jede Rücksicht auf die bösen Kapitalisten wurde soeben die Wirtschaft stillgelegt – selbstverständlich abgefedert durch Staatshilfen, sind doch Hunderttausende aus Bärfussens guter Arbeiterklasse vom Lohnausfall betroffen.

Damit wäre das Weihnachtsmärchen ­aller Spätmarxisten widerlegt, und zwar ganz praktisch. Das kulturelle Gut Gesundheit als Überbau bestimmt plötzlich den ökonomischen Unterbau. Aus marxistischer Sicht eine verkehrte Welt – nicht das ökonomische Sein bestimmt das gesellschaftliche Bewusstsein, nein, umgekehrt bestimmt gesellschaftliches Bewusstsein wirtschaft­liches Sein. Oder in der Dialektik der Klassenkampf-Religion ausgedrückt: Statt Hegel wird gerade Marx vom Kopf auf die Füsse gestellt.

Das müsste dem Denker aus Thun zu denken geben.

Der «Tages-Anzeiger», Weltblatt der Wohlgesinnten, beklagt das von Bärfuss ätzend formulierte Pamphlet als gut gemeint, aber wenig hilfreich: «Für Debatten übers Prinzipielle und übers Verpasste ist später Zeit.» Nach dieser Zurechtweisung senkt der Leser das Haupt und haucht ergeben: Genau!

Die Zürcher Regionalzeitung – seit einiger Zeit vom moralischen Furor ihres geistigen Leitmediums «Süddeutsche Zeitung» infiziert – weiss, was wann wie gesagt werden darf. Bärfuss hätte warten sollen, um in besseren Zeiten als Gewissen der Schweiz aufzutrumpfen.

Doch gerade dadurch, dass der Literat in unpassenden Tagen unpassende Gedanken in unpassender Form zum Besten gibt, wird erkennbar, wie sehr seine Bedeutung als Gewissen über die Schweiz hinausreicht: In die Welt des freiheitlich-kapitalistischen Systems.

Denn wo anders als in dieser offenen Gesellschaft, die sich der Selbstkritik mit masochistischer Lust hingibt und daraus ihre Lehren zieht, wäre seine Schmähkritik möglich?

In dem von ihm erträumten System ohne Kapitalisten dürfte Klassen­kämpfer Bärfuss keinen provozierenden Pieps machen, keine kritische ­Zeile ­publizieren.

In unserer westlich-kapitalistischen ­Gesellschaft dagegen weht der Geist des Lukas Bärfuss, wann er will und wie er will.

Deshalb darf der scharfrichtende Eid­genosse auf die Frage, ob er das mora­lische Gewissen der Schweiz sei, das nächste Mal auch ohne jeden Hochmut antworten:

Ich bin das Gewissen der freien Welt.

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