Was wird sein, wenn es vorbei ist? Philosophen und Prognostiker sehen die Menschheit vor einer düsteren, ja gefährlichen Zukunft. Der italienische Denker Giorgio Agamben formuliert es so: «Das Virus infiziert nicht nur einzelne Menschen, sondern die ganze Gesellschaft.» Und der deutsche Soziologe Heinz Bude bringt es auf eine ähnlich triste Formel: «Die Angst macht uns zu wilden Egoisten.»
Weil die schlimme Nachricht schon immer die interessantere Nachricht war, geniessen die Verkünder des Fatalen und Aufwiegler der Emotionen weit grössere Aufmerksamkeit als die Tröster und Abwiegler, die sich um eine realistisch temperierte Sicht in die Zukunft bemühen.
Wer das Ende einer Welt prophezeit, in der wir eben noch lebten, ist in den Augen seiner Gernegläubigen von ganz anderer Statur als der mickrige Skeptiker, der darauf hinweist, dass alles auch ganz anders kommen könnte – nicht ganz so schlimm, womöglich sogar besser.
Gibt Corona zur Hoffnungslosigkeit Anlass? Oder zu Hoffnung?
Buchstäblich zahllos sind die Menschen im Einsatz für Menschen, die dem Virus verfallen oder ausgesetzt sind. Ihre Hilfe leisten sie unbesehen der eigenen Sicherheit. Ärzte und Krankenschwestern und Pfleger arbeiten über das Ende ihrer Kräfte hinaus – immer weiter, Tag und Nacht.
Auch im Alltag helfen Menschen Menschen, nehmen Rücksicht, akzeptieren einschneidende Massnahmen, erklären sie ihren Nächsten, ihren Kindern.
Oh ja, es wurde wohl auch zu viel vom Gleichen eingekauft, Regale in den Einkaufszentren waren plötzlich halb oder völlig leer geräumt. Man kann das als Folge von Hamstern oder gar Plündern bezeichnen, oder auch nur als Konsequenz einer Welle von vorsorglichen Einkäufen, die durch die Nachrichtenlage plötzlich über die Geschäfte hereinbrach. Inzwischen halten die Konsumenten vor den Kassen und voneinander Distanz, üben Selbstschutz als Schutz des andern – man versteht sich, über zwei bis drei Meter Abstand hinweg.
Warum eigentlich soll die Gesellschaft nach Corona egoistischer gestimmt sein als die Gesellschaft vor dem Virus? Noch egoistischer, müsste man sagen. Denn war sie nicht bereits egoistisch inmitten einer Überfülle, die diesen Egoismus verdeckte, indem jeder ergattern konnte, was ihm beliebte? Es war ja alles da, am Ende einer weltweiten Lieferkette – der Segen einer grenzenlosen Konsumwelt, ein Paradies namens Globalisierung, der Topf mit Gold am Ende des Regenbogens.
Ist es denkbar, dass das Eigene sich durch den viralen Schock gerade wieder herausschält: die eigene Familie, die eigene Nachbarschaft, die eigene Kultur – die eigene politische Leitkultur?
Das eigene Zuhause.
Die Schweiz und ihre Nachbarn und ihr Europa – ja! ihr! Europa! – als Gemeinschaft mit ganz besonderen Werten? Solche Einsicht wächst durch die Not und die Angst: durch den Widerstand gegen diese Not und diese Angst.
Die Gesellschaft darf sich nicht mehr in Massen bewegen – darf nicht mehr Masse sein. Jeder Einzelne muss Social Distancing üben. Folgt daraus Vereinzelung?
Vielleicht folgt daraus eine neue alte Distanz der Höflichkeit, des Benehmens, der Manieren. Es wäre eine segensreiche Lehre für den distanzlosen und geschmacklosen Hedonismus unserer Gegenwart, in der die Bussi-Bussi-Kultur die höchste Politik erreicht hat, in der jeder jede umarmt, jeden abklatscht, Kuschelei inszeniert und mit jedem per Du verkehrt.
Zum bürgerlichen Comment gehörte einst das umsichtige Sie, das nur zum Du wurde, wenn freundschaftliche Nähe dazu Anlass gab. Wer aber darf heute noch auf dem Sie beharren – in einer Gesellschaft der Gleichmacherei, in einer Kollegialität der Kumpanei.
Symbol der Vor-Corona- Zeit war das Kreuzfahrtschiff mit 6000 Passagieren in der seichten Lagune des Weltwunders Venedig: brutal, primitiv, präpotent.
Die totale Verfügbarkeit von allem für alle und zu jeder Stunde führte zur totalen Verhunzung von Schönheit und Wert. Der Smartphone-Tourismus war das Virus vor dem Virus, das Selfie die Selbstisolation vor der Corona-Isolation.
Vulgarität als Signum einer Zeit.
Warum sollte es nun nicht anders werden? Langsamer der Lauf der Dinge; geringer das Multitasking; grösser die Achtsamkeit; geruhsamer das Geniessen; tiefer die Hingabe.
Lebenswerter das Leben.
Der Mensch ist ein lernendes Wesen.
Und er entwickelt auch in diesem ramponierten Alltag mehr als nur einen neuen Impfstoff.