In einer nicht ganz unbedeutenden Tageszeitung war zu lesen: «Zürich verbietet auch Demonstrationen, die gefahrlos stattfinden könnten.» Daraus zog das Blatt den Schluss: «Es zeugt von einem Staat, der seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern nicht traut.»
Man möchte dem staatskritischen Journalisten freudig zustimmen: Ja, ganz genau, die Schweiz braucht einen Staat, der seinen Bürgerinnen und Bürgern traut. Oder etwa nicht?
Wir erleben gerade Zeiten, in denen die Landesregierung täglich beteuert, dem Volk zu vertrauen, weil es brav ihren Anordnungen Folge leistet, die von Virologen als vorteilhaft, wenn nicht gar zwingend für die Bekämpfung der Corona-Pandemie erachtet werden.
Alain Berset, Verkünder der Verhaltensmassnahmen, unterlässt es nicht, seiner Zufriedenheit mit den Bürgerinnen und Bürgern Ausdruck zu verleihen – väterlich-streng, wie es dem Ernst der Lage nun mal angemessen ist.
Ja, der Bundesrat vertraut dem Volk. Und ist nicht der Bundesrat der Staat? Also vertraut der Staat dem Volk. Ist das gut so? Es ist die verkehrte Welt:
Die Demokratie steht kopf.
Demokratie ist Volksherrschaft. In der direkten Demokratie der Schweiz sogar noch ausgeprägter als in rein parlamentarischen Systemen. Was aber bedeutet das ganz konkret?
Es bedeutet: Der Staat benötigt das Vertrauen des Volkes – nicht umgekehrt. Und weil der Staat kein handelndes Subjekt ist, benötigen die Macher des Staates – das Parlament, die Regierung, die Justiz – das Vertrauen des Volkes.
Bis jetzt geniessen die Staatsmacher dieses Vertrauen, übrigens zu Recht, arbeiten sie doch vorzüglich: im Auftrag des Volkes. Daraus paternalistische Befugnis abzuleiten, wäre völlig verfehlt. Darum muss auch jede solche Versuchung nach langen Wochen des Ausnahmezustandes unterbunden werden:
Durch die Rückkehr der Politik.
Politik aber bedeutet Konflikt, Streit, Gruppeninteressen gegen Gruppeninteressen, Ideen, Überzeugungen. Politik wird unter anderem ausgetragen mit Emotionen, laut und heftig, bösartig und liebenswürdig. Der Politik ist nichts Menschliches fremd.
Demokratie ist Dissenz der Meinungen – und Dissonanz der Gesellschaft.
Daran müssen sich Bürgerinnen und Bürger wieder gewöhnen, denen das konfliktfreie Ausnahme-Verhältnis zwischen Volk und Regierung so wundersame Geborgenheit suggerierte – ein wohlig ungewohntes Lebensgefühl im sonst so verwirrenden Durcheinandertal der Demokratie.
Demokratie ist ja in der Praxis nichts Erhebendes, vielmehr ist sie etwas Mühseliges. Bertolt Brecht beschrieb die demokratische Betätigung als «die Mühen der Ebene». Wer sich als Demokrat abmüht um gesellschaftliche Gestaltung in seinem Geiste, der wird immer wieder enttäuscht: Seine hochgemuten Visionen und Überzeugungen erweisen sich als Täuschung, weil Andersdenkende sie durchkreuzen. Demokraten ertragen Enttäuschung – geschrieben mit Bindestrich:
Demokratie ist Ent-Täuschung.
Vielleicht muss sich die Öffentlichkeit wieder einüben in diese Disziplin. Allerdings nicht nur die gemeine Öffentlichkeit. Auch die Journalisten mit ihren Medien. Da war doch kürzlich in einer nicht ganz unbedeutenden Tageszeitung zu lesen: «Cassis hat eine rote Linie überschritten» – also verbotenes Gelände betreten. Der Alarmruf bezog sich darauf, dass der Aussenminister im Bundesratskollegium Wirtschaftsinteressen vertrat.
Das Blatt erteilte dem Tessiner Bundesrat folgende Lehre: «Wer mit Notrecht regiert, muss sich ganz besonders bemühen, seine Politik am Landesinteresse auszurichten, nicht an den Begehrlichkeiten von Lobbys.»
Was sind Lobbys? Vertreter von Interessen. Was ist die Demokratie? Die Vielzahl dieser Interessen. Was ist das Landesinteresse? Das Resultat aus diesen Interessen.
Was wäre «das Landesinteresse» ohne die Einzelinteressen, Gruppeninteressen und Interessen unterschiedlicher sozialer Schichten? Wer wollte sich anmassen, ein im Volk weitgehend wurzelloses Landesinteresse zu definieren, allgemeingültig festzulegen und zu verkünden – der Bundesrat, Virologen, Ökologen, Ökonomen, Philosophen gar?
Es wäre keine Demokratie.