Nach Roberto Balzaretti nun also Livia Leu. Nach dem Mann die Frau. Das feministische Bonmot erweist sich mal wieder als aktuell: Wenn Männer eine Aufgabe nicht lösen können, müssen Frauen ran. Die Verhandlungen mit der Europäischen Union über einen Rahmenvertrag sind aus Schweizer Sicht ein solcher Ernstfall.
Ist Livia Leu die Lösung? Zu hoffen ist auf ihr Charisma, ererbt vom Vater, dem legendären Hotelier Hans C. Leu, der die Fünf-Sterne-Herberge Giardino in Ascona zu einer Oase der Herzlichkeit verzauberte.
Zauberkräfte benötigt die neue Staatssekretärin, will sie die Verhandlungspartner der Europäischen Union vom Sinn der Schweizer Sonderwünsche überzeugen. Livia Leu ist das beste letzte Aufgebot.
Worum es geht? Für Pierre- Yves Maillard, den Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes, um nichts weniger als «die Demokratie». Und für Thomas Aeschi, Fraktionschef der SVP, um nichts weniger als «alles, was die Schweiz ausmacht».
Fordert Brüssel die Abschaffung der Schweiz?
Vielleicht hilft ein Blick in die europäische Wirklichkeit über die schlimmsten Befürchtungen hinweg:
Ist Dänemark keine Demokratie? Hat Dänemark seine Identität verloren? Das kleine, feine und überaus selbstbewusste Land ist Mitglied der EU – und spielt mit Margrethe Vestager, der Kommissarin für Wettbewerb, in Brüssel eine bedeutende Rolle.
Wie klingt es in dänischen Ohren, wenn die Schweizer um Demokratie und Identität fürchten, weil sie mit der EU verbindliche Regeln ausmachen sollen?
Die Schweiz urteilt über die Europäische Union vom hohen Ross herab. Ihr Aufritt und ihr Auftritt könnten von EU-Bürgern durchaus als beleidigend empfunden werden: Sind wir Österreicher undemokratisch? Haben wir Portugiesen unsere Seele verkauft? Leben wir Italiener in keinem souveränen Staat?
Die EU ist die bedeutendste Demokratien-Gemeinschaft der Welt. Und damit Garantin einer demokratischen Welt inmitten von Diktaturen und Despotien. Das freie und rechtsstaatliche Europa ist EU-Europa.
Die Schweiz ist nicht Mitglied der Europäischen Union. Dennoch ist sie in der EU. In EU-Europa. Im Herzen des Kontinents der Freiheit. Wohlgeschützt durch die wirtschaftliche und politische Macht der supranationalen Gemeinschaft, über die sie sich so gerne naserümpfend erhebt.
In den osteuropäischen Staaten, die von der Europäischen Union neu aufgenommen wurden, geniessen Schweizer Unternehmen Freiheit und Rechtssicherheit, moderne Infrastruktur und kulturelle Entwicklung – garantiert und finanziert durch Brüssel.
1,3 Milliarden Franken soll die Schweiz zur Osterweiterung der EU beitragen – für eines der reichsten Länder der Erde ein Pappenstiel. Der Betrag wird als Druckmittel ins Feld geführt, um Zugeständnisse von der EU zu erlangen. Auch soll ausschliesslich die Schweiz über dessen Verwendung bestimmen – Ausdruck von Misstrauen gegenüber Brüssels Beamten.
Vermessenheit und Anmassung statt Solidarität und Empathie prägen die helvetische Politik, wenn es um die Lebenswelt geht, die für eine prosperierende Schweiz unverzichtbar ist: um Europa.
Wo leben die antieuropäischen Grosssprecher eigentlich?
Sie leben in einer ehrwürdigen Alpenrepublik, deren Stimmbürger soeben der Beschaffung von Kampfflugzeugen zugestimmt haben – ein Entscheid, der nur als Beitrag zur Luftwaffe des westlichen Verteidigungsbündnisses Nato sinnvoll begründet werden kann.
Die wirtschaftliche und politische Nato heisst EU.
Die Quengelei um ein Abkommen, das die 120 Verträge der Schweiz mit der EU in einen politisch und rechtlich praktizierbaren Rahmen fasst, trägt infantile Züge.
Die Schweiz ist tüchtig. Die Schweiz hat Genie. Die Schweiz verfügt über ein tiefes, fast schon genetisches Verständnis von demokratischer Kultur. Die Schweiz lebt die Freiheit beispielhaft vor.
Die Schweiz ist Weltspitze.
Vielleicht hat so viel Licht auch seine Schattenseite:
Die Schweiz ist kindisch.