Frank A. Meyer – die Kolumne
Die Kultur des Freisinns

Publiziert: 05.11.2023 um 01:15 Uhr
|
Aktualisiert: 05.11.2023 um 08:21 Uhr
FAM.jpg
Frank A. MeyerPublizist

Der Freisinnige Pascal Couchepin, Bundesrat von 1998 bis 2009, formuliert an seinem Walliser Alterssitz tiefe Sorge um die Politik: «Die beiden stramm geführten Polparteien, die SP und die SVP, schaden der liberalen Kultur, die dieses Land stets geprägt hat.»

Ein Satz zur Schweiz. Aber auch ein Satz zur Welt.

Die Feinde der liberalen Kultur sind auf dem Vormarsch – innerhalb wie ausserhalb des freiheitlichen Westens. Ihr erklärtes Ziel ist es, die Demokratie zu destabilisieren und, wo immer möglich, zu zerstören.

Nicht wenige halten diesen Befund für Alarmismus.

In seiner Dankesrede für den «Friedenspreis des deutschen Buchhandels» in der Frankfurter Paulskirche erklärte der Schriftsteller Salman Rushdie am 22. Oktober: «Wir leben in einer Zeit, von der ich nicht geglaubt habe, sie erleben zu müssen, eine Zeit, in der die Freiheit (…) auf allen Seiten von reaktionären, autoritären, populistischen, demagogischen, halbgebildeten, narzisstischen und achtlosen Stimmen angegriffen wird.»

Salman Rushdie weiss, wovon er redet. Am 12. August 2022 wurde er von einem islamischen Attentäter mit einem Messer lebensgefährlich verletzt. Er verlor ein Auge. Seine Worte sind Sorge und Warnung zugleich.

Sie richten sich auch an all jene, die Couchepins Mahnung für übertrieben halten.

Die Feindschaft gegen den Westen manifestiert sich in zwei mörderischen Terrorüberfällen: dem Russlands auf die Ukraine und dem der Hamas auf Israel. Sie manifestiert sich nicht zuletzt in Sympathiebekundungen autoritärer und totalitärer Regimes für die Aggressoren. Bei Potentaten und Diktatoren herrscht Aufbruchstimmung, ganz besonders in der Welt des Islam.

Doch auch im Westen selbst wird der Westen zum Feind gemacht. Salman Rushdie sagte in seiner Frankfurter Rede: «Und es gibt sogar progressive Stimmen, die sich für eine neue Variante konformistischer Zensur aussprechen, eine Zensur, die sich den Anschein des Tugendhaften gibt und die viele, vor allem junge Menschen, auch für eine Tugend halten. Von links wie rechts gerät die Freiheit also unter Druck …»
Der Mahner der Paulskirche und der Mahner aus dem Wallis, der weltberühmte Freiheitsdenker und der Schweizer Freisinnige sprechen mit einer Stimme. Welcher politische Auftrag wäre daraus abzuleiten? Zum Beispiel die Verpflichtung des Schweizer Freisinns, offensiv für die politische Kultur des Liberalismus einzutreten.

Diese Pflicht hat ihren zwingenden historischen Hintergrund: Am 12. September 1848, also vor 175 Jahren, schuf die FDP die moderne Schweiz – mitten im Monarchen- und Fürsteneuropa, umgeben von Feinden der Demokratie. Mit dem modernen Bundesstaat schlug die Schweiz eine Schneise für die Entwicklung der Freiheit in Europa.

Da der Kampf für Demokratie und Rechtsstaat – wie wir erneut erleben – nie abgeschlossen ist, bleibt auch die Verpflichtung der liberalen Kräfte aktuell. In der Schweiz müsste sie die Politik der Gründerpartei prägen. Tut sie das? Verkörpert der Schweizer Freisinn kämpferische liberale Kultur?

FDP-Politiker vertreten liberale Anliegen der Wirtschaft. Auch wenn es um zwischenmenschliche Toleranz geht, um Sexualmoral beispielsweise, stehen sie auf der Seite des Fortschritts.

Doch liberale politische Kultur ist mehr – sie bedeutet Wortführerschaft in der Debatte um die offene Gesellschaft. Diese Debatte aber wird seit einigen Jahren beherrscht von einem linksgrün-akademischen Milieu, das den Liberalismus aktiv bekämpft, indem es ihn verleumdet als kolonialistisch, als strukturell rassistisch, als patriarchalisch vom «alten weissen Mann» beherrscht – der Figur des Bösen an sich.

Gegen die Freiheit des Einzelnen setzt diese illiberale Studenteska ihre Gruppeninteressen: geschlechtliche Präferenzen, religiöse, ideologische und Lifestyle-Identitäten aller Art sollen durch Sonderrechte wie Quoten oder strafrechtlichen Schutz vor jedweder Form gefühlsmässiger Beeinträchtigung bewahrt werden. Sieht sich eine Gruppe beleidigt, ist der Beleidiger zu sanktionieren. Auch Sprechen, Essen und Fortbewegen soll einem von Minderheiten definierten Korrektheitskodex unterworfen sein.
So wird das freiheitliche Grundprinzip der Gleichheit eliminiert: Nicht mehr der Einzelne ist gleich und frei, die Gruppe ist es – und setzt ihre Ansprüche gegen den Einzelnen durch.

Die linksgrün-akademische Kaste will zurück in die historische Phase vor der Aufklärung. An den Universitäten, zumal an privaten, für Normalbürger kaum erschwinglichen Elitehochschulen in den USA, wird diese Ideologie des «Vorwärts in die Vergangenheit» systematisch betrieben. Auch in der Schweiz unterstützen viele Bildungsstätten den reaktionären Kreuzzug einer materiell wohlversorgten Generation.

Die politische Kultur wird zunehmend bestimmt von antiliberalen Kräften. Der Freisinn beschränkt sich derweil darauf, das Klein-Klein des wirtschaftlichen Alltags zu betreiben.

Das war einmal anders – es ist noch gar nicht so lange her. Für diese Epoche, in der freisinnige Stimmen die politisch-kulturelle Szene massgeblich bestimmten, stehen Namen der jüngsten Vergangenheit wie Gilles Petitpierre, Otto Schoch, René Rhinow, Andreas Iten oder Franz Steinegger – und eben Pascal Couchepin.

In jener Hoch-Zeit freisinniger politischer Kultur war es sogar selbstverständlich, dass mächtige Wirtschaftsvertreter internationale philosophische Beziehungen pflegten. So der Zürcher Nationalrat Richard Reich mit Manès Sperber, dem Denker der Sozialpsychologie und Autor des politisch-historischen Schlüsselromans «Wie eine Träne im Ozean». Oder der Tessiner Ständerat Sergio Salvioni, ein rebellisch-radikaler Politiker des Freisinns, mit seinen Philosophie-Tagen in Lugano.

Damals amtierte der Zürcher Ueli Bremi, der wohl mächtigste Schweizer Wirtschaftsführer, als FDP-Fraktionspräsident. Er hatte die urfreisinnige Angewohnheit, stets Gegenmeinungen aufzurufen, den Widerspruch einzufordern. Kollegen mit abweichenden Argumenten nannte er «meine Grenzbefestigungen».

Dieser «Bismarck der Schweizer Wirtschaft» liess zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft das Dürrenmatt-Stück «Herkules und der Stall des Augias» durch einen blutjungen Regisseur inszenieren – im Nationalratssaal! Ein Bühnenwerk, das nur mit kritischem Blick auf die Schweiz zu verstehen und zu geniessen war.

Der Freisinn heute braucht dringend Kultur. Und die antiliberale Kultur, ob rechts-populistisch oder links-elitistisch, braucht Freisinn.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?