Achtzehn Stunden lang kämpften achtundzwanzig Regierungschefs am Dienstag um die Besetzung der Brüsseler Spitzenposten. Demokratie ist anstrengend. Aber war es überhaupt Demokratie, was sich da im Europagebäude an der Rue de la Loi abspielte?
Nach Meinung der «Neuen Zürcher Zeitung» war es nichts als «Postenschacher». Aus dem Blickwinkel des BLICK haben «215 Millionen EU-Bürger nichts zu sagen» zu den «Hinterzimmer-Deals».
Es wurde, so die «NZZ», «gepokert». BLICK nennt das Resultat den «Von-der-Leyen-Coup».
Die zwei wirkungsmächtigsten Zeitungen der Schweiz zeichnen das Bild eines demokratischen Desasters.
War es das?
Die designierte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen benötigte die Akzeptanz von mindestens 21 Staaten, in denen zwei Drittel der EU-Bevölkerung leben. Am Ende muss dann noch eine Mehrheit der Abgeordneten im EU-Parlament für sie stimmen.
In der Tat, die Europäische Union ist ein kompliziertes Gebilde!
Was sich diese Woche in Brüssel abspielte, war ein dramatisches Ringen um die EU-Führung, zugleich aber das hochsensible Bemühen um die Einbindung möglichst aller politisch relevanten Strömungen – Machtkampf nach den Spielregeln der Demokratie.
Was sonst wäre Demokratie?
In den Wahlen und nach den Wahlen geht es um Regierungs- und Repräsentationsmacht. Danach geht es ums Regieren. Bis zu den nächsten Wahlen.
Vor allem geht es in der Demokratie nicht um Friede, Freude, Eierkuchen, nicht um Harmonie, nicht um traute Einigkeit. Wesensmerkmal demokratischer Wirklichkeit ist die Spaltung.
Die Demokratie ermöglicht das politische Leben einer durch und durch gespaltenen Gesellschaft: gespalten in linke und rechte Parteien, gespalten in Regionen, Kulturen und Mentalitäten, gespalten in Arm und Reich, in der Schweiz zusätzlich gespalten in Sprachregionen.
Die EU ist vor allem gespalten in die Gründernationen des europäischen Westens und die neu hinzugekommenen Nationen aus dem Osten, in die protestantischen und katholischen Mentalitäten des Nordens und des Südens, von den zahlreichen Sprachkulturen ganz zu schweigen.
Dass diese Nationen-Welt zusammenhält, ist ein wahres Wunder. Das Wunder heisst Demokratie.
Aber Demokratie ist vor allem Arbeit, Arbeit, Arbeit – achtzehn Stunden lang durch die Nacht, wenn es nicht anders geht. Ferner ist Demokratie stets auch Enttäuschung: für die Unterlegenen im Verteilungskampf um Personen und Posten – im Machtkampf.
Es herrscht die Tendenz, dieses Kräftemessen mit hämischen Vokabeln zu kommentieren, besonders gerne aus dem Jiddischen, wie eben «Schacher», oder auch «mauscheln». Die publizistische Herablassung nährt die populistische Verachtung für demokratische Vorgänge. Auch wird demokratischer Politik, die naturgemäss Sieger und Verlierer hervorbringt, Spaltung vorgeworfen und mit scheinheiligem Bedauern unterstellt: Dieses System führt nicht zu Lösungen, sondern zu immer neuem Gegeneinander.
Viele – allzu viele – Medien offenbaren ein fatales Verständnis von Demokratie: Sie habe Geschlossenheit zu garantieren. Doch Geschlossenheit und Gleichschritt sind Kennzeichen der Diktatur, nicht der offenen Gesellschaft.
Nur Spaltung garantiert Entwicklung: das Gegeneinander von Ideen und
Interessen.
Wer um Ideen und Interessen streitet, um Personen und Posten ringt, der schachert nicht, der mauschelt nicht, der sitzt nicht am Pokertisch, der dealt nicht im Hinterzimmer und der landet keine Coups.
Er leistet demokratische Arbeit.