Frank A. Meyer – die Kolumne
Das richtige falsche Leben

Publiziert: 06.06.2020 um 23:58 Uhr
Teilen
Anhören
Kommentieren
Frank A. Meyer

Einst richtete man die Augen gen Himmel und schaute den lieben Gott. Dann blickte man hoch zu den Kondensstreifen der Flug­zeuge. Seit drei Monaten ­erfreuen sich naturbeseelte Guck-in-die-Luft an einem Firmament ohne alles.


Ja, der Luftraum ist gereinigt vom technischen Schmutz der Zivili­sation. Allerdings nicht mehr lange. Bereits wieder ziehen, spärlich noch, aber zielstrebig, Aeroplane ihre umweltschädlichen Spuren.

Geht es morgen schon wieder so, wie es eben noch ging? Setzt sich die Misere der Massenkultur fort, als wäre nichts gewesen: kein ­Virus, keine Besinnung – kein ­Zeichen des Himmels?

Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Alles muss doch nach dem Pandemieschock anders werden – und wenn nicht ganz anders, dann wenigstens besser, und zwar subito, worauf auch die Frage ­hin­ausläuft, die im BLICK als Titel zu lesen war: «Wenn nicht jetzt, wann dann?»

In der Tat schwirren gerade die besten – die tollsten – Ideen durch den po­litischen Raum. 27 000 Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich zur Initiative «Scientists for ­Future» vernetzt, und Gründerin Maja Göpel postuliert, was nun zu geschehen habe: «Es gilt, neu zu verhandeln, was den Wohlstand der Menschen übermorgen ausmacht.»

Fürwahr ein hehres Ziel. Das goldene Zeit­alter «Übermorgen» soll möglichst gleich ­ ins Werk gesetzt werden. Der Corona-Aus­nahmezustand als Anlass, der gestoppten Wirtschaft eine neue Richtung zu verordnen. «Nachhaltigkeit» lautet das Zauberwort, das die Türen zum Paradies öffnen soll. Branchen und Firmen dürften nur noch gefördert ­werden, sofern sie nachhaltig produzieren, nachhaltige Dienstleistungen anbieten.

Wer könnte dagegen sein?

Ökologen und Politologen weisen Politik und Wirtschaft den Weg, auf welchem auch die Bürger künftig wandeln sollen.

Nach den Virologen die Wirtschaftologen.

Vielleicht wäre es an Zeit, der Zeit doch noch etwas Zeit zu lassen, wie der frühere fran­zösische Präsident François Mitterrand, ­feiner Intellektueller, der er ebenfalls war, einst so klug zu bedenken gab. Demokratie nämlich bedeutet Entschleunigung, um der klugen Erörterung Raum zu geben.

Was die eifrigen Weltumbauer eben gerade fordern, verrät Übereifer – ein schlechter Ratgeber, sogar für Revolutionäre.

Wer den Rückblick auf die Zeiten vor ­Corona zum finsteren Schreckensbild einer rücksichtslos produzierenden und hemmungslos konsumierenden westlichen Zivilisation ausmalt, der missbraucht den gesundheitspolitisch angebrachten Ausnahmezustand für eigene Zwecke. Für eigene gute Zwecke selbstverständlich, denn immer sind es gute, beste, allerbeste Zwecke, welche Ausnahme­zustände rechtfertigen.

Wie wäre es mit einer Rückkehr zur Nor­malität?

Die Menschen, die mit ihren Kindern in ­Dreizimmerwohnungen ausharren mussten, möchten mit ihrem Benzinwagen ­aus­fahren; die monatelang arbeitslosen Flug-Hostessen möchten ihre Pas­sagiere betreuen; die Kurzarbeiter in der ­Industrie möchten wieder voll arbeiten.

Jawohl, die unzähligen ein­fachen Leute, die kleinen Bürger, die Kleinbürger, die von elitärer ­Warte aus so leichthin verachteten Spiesser – sie fordern ihr Recht. Auf ihren Alltag. Mit Recht.

Dies alles wäre vonseiten der Um-Denker zumindest mit zu ­bedenken, wenn sie die west­liche Welt als herrschendes Elend und nahenden Untergang deuten – und dabei der ver­queren Formel von Theodor W. Adorno aus den 1950er-Jahren ­folgen, die da lau­tete:

«Es gibt kein richtiges Leben im ­falschen.»

Denn genau darauf läuft die ­aktuelle Schwarzmalerei ­hinaus: Die Menschen, die jetzt ­leben, leben ein falsches Leben, weil das rich­tige sich erst in weiter Ferne abzeichnet – als Er­lösung vom Elend des kapitalis­tischen, also falschen Alltags.

Doch die Menschen leben nun mal das Leben, das sie gerade ­leben. Es ist ihr einziges. Sie möchten es ­bejahen, darin erfolgreich sein – auch glücklich.

Welche Anmassung, Menschen das richtige Leben abzusprechen!

Das Bild von der düsteren Existenz hie­nieden, erleuchtet allein durch gleissende Verheissungen, wird mit dem Anspruch verkündet, die Ahnungslosen zum richtigen Tun in ihrem falschen Leben anzuleiten – sie zu erziehen. In Deutschland widmet sich mit den Grünen eine ganze Partei dieser pädagogischen Aufgabe.

Es war der faschistische Staatstheoretiker und Nazi-Kronjurist Carl Schmitt, der erklärt hat: «Souverän ist, wer den Ausnahme­zustand entscheidet.»

Corona war Ausnahmezustand, bleibt sogar bis auf weiteres Ausnahmezustand, was die Folgen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft betrifft.

Wer nach dem reinigenden Lockdown frische Luft für seine Weltverbesserungs-Pläne wittert, der sollte die Nase zunächst einmal ins Demokratiebuch stecken.

Teilen
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?