Ja, was nun? Soll ein Mitglied der Grünen Einsitz in der Landesregierung nehmen – in diesem Fall natürlich eine Frau? Rechnen lässt sich das: Die Grünen haben im Parlament neuerdings «Bundesratsstärke», die Frauen ohnehin, sie halten über 40 Prozent der Sitze. Der alten Zauberformel hingegen fehlt der Zauber des Neuen: das Weltumgreifende.
Wie war es 1959, als die Zauberformel erfunden wurde? Die Zusammensetzung des Bundesrates liess sich aus den Parlamentsmandaten errechnen: 26 Prozent SPS, 24 Prozent FDP, 23 Prozent KCVP (heute CVP), 12 Prozent BGB (heute SVP), das ergab zwei-zwei-zwei-eins: den immer noch gültigen Schlüssel – abgesehen von der kleinen Anpassung an die Stärke der SVP, die inzwischen statt der CVP über zwei Sitze im Bundesratszimmer verfügt.
So einfach war das, so einfach geht das. War es so einfach, ging es so einfach? Nein, das Rechenexempel täuscht dies nur vor. Es war ein historischer Augenblick der Schweizer Geschichte, kein mathematisches Manöver: Die Sozialdemokratie wurde vor sechzig Jahren in die Kollegialregierung integriert. Mit ihr die Arbeiterbewegung, zu deren Kern die Gewerkschaften zählten.
Diese geschichtlichen Kräfte hatten die Schweiz verändert, mit ihren Kämpfen um soziale Gerechtigkeit, um die Befreiung der einfachen Bürger von sozialen Ängsten. Nicht zuletzt modernisierten sie die Wirtschaft, die sich unter dem politischen Druck der Linken zur sozialen Marktwirtschaft entwickeln musste.
Ja, die moderne Schweiz ist das Ergebnis sozialdemokratisch-gewerkschaftlicher Gesellschaftspolitik. Was nicht ohne Kompromissbereitschaft der bürgerlichen Kräfte denkbar war, insbesondere der Christdemokraten. Sie machten 1959 auch die Zauberformel möglich, die Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung im besten Sinne. Die Proletarier, die Sozis, die Genossen wurden Bürger: Citoyennes und Citoyens – die fortschrittlichste bürgerliche Kraft der Schweiz.
Dieser Blick zurück zeigt: Rechnen reicht nicht, um einen grünen Sitz im Regierungskollegium zu rechtfertigen. Vielmehr stellt sich die Frage: Was haben die Grünen politisch vorzuweisen – ausser einem beeindruckenden Wahlsieg?
Ihre Geschichte ist jung. Ihr Thema ebenso. Sie sind gerade Mode. Nicht nur in der Schweiz, in Europa, in der gesamten westlichen Welt. Der Hype erreichte seinen Höhepunkt mit der Rede der 16-jährigen Greta Thunberg vor der Uno. Seither ist Grün die Farbe der Weltrettung. Der Kinderbewegung Fridays for Future fliegen auch die Herzen der Eltern zu. Die grüne Bewegung ist selig.
Der Klimaforscher Hans von Storch gibt in einem Gespräch mit dem deutschen Nachrichtenmagazin «Spiegel» zu bedenken: «Früher war ein Sturm einfach ein Sturm, heute gilt er manchen als Vorbote des Weltuntergangs. Doch das ist eher ein psychologisches Phänomen, kein physikalisches. Nicht der Sturm selbst hat sich geändert, sondern wie wir ihn wahrnehmen.»
Ganz ähnlich hat sich auch die Sicht auf die Umweltpartei verändert: Wer sie wählt, wählt den Kampf gegen den Weltuntergang. Ist eine edlere politische Tat denkbar?
Auf dieser Weltrettungswelle surften die Grünen zu ihrem spektakulären Wahlsieg – als Weltrettungs-Partei.
Doch was, wenn die Welle abklingt, weil die Prophezeiung der Apokalypse an Überzeugungskraft verliert? Dann verlieren die Grünen die nächsten Wahlen. Es sei denn, sie etablieren sich als ganzheitliche Partei des Wandels, und zwar auf Dauer, das heisst: als nicht mehr wegdenkbar für die Schweiz des 21. Jahrhunderts – wie es die Sozialdemokraten für das 20. Jahrhundert gewesen sind.
Die Chance ist gross, dass den Grünen diese Transformation gelingt. Sie sind Schweizer Grüne: pragmatisch und kompromissfähig – und wohl auch weniger umweltreligiös als die Glaubenseiferer im Meteoritenschweif der Thunberg-Bewegung.
Das heisst: Die Grünen müssen sich erst noch beweisen. Sie haben dafür vier bis acht Jahre Zeit.
Denn ihre Beteiligung am Bundesrat ist keine Rechenaufgabe – sondern ein politisch-historischer Akt.