Die «Neue Zürcher Zeitung» beschreibt die Rolle der FDP als «Hebamme des Bundesstaates» – eine durchaus respektable Funktion, aber offenbar nicht attraktiv genug in postfeministischen Zeiten: Wer will sich schon als Hebamme auf den freisinnigen Präsidentenstuhl schwingen? Denkbare Anwärter für dieses Amt melden sich jedenfalls reihenweise ab.
«Hebamme» ist allerdings auch ein verfehltes Bild: Die FDP hat der republikanischen Schweiz nicht auf die Welt geholfen.
Der Freisinn w a r die Republik!
Die Gründungspartei der modernen Schweiz blieb über Generationen die Schweiz-Partei – bis sie sich mit der Sozialdemokratie ins Benehmen setzen musste, aus deren Arbeiterschaft das moderne Bürgertum erwuchs. Fürderhin gehörten die beiden Emanzipationsbewegungen zusammen – gegeneinander und miteinander: kooperierende Konkurrenten zum Wohle des Landes.
Die geschichtliche Leistung der Freisinnigen war die Erfindung der Republik mitten in einem Fürsten- und Monarcheneuropa – heute Erbfreude und Erblast zugleich. Denn der Auftrag und die Verpflichtung sind geblieben: Solange der Freisinn funktioniert, funktioniert die Nation – sogar gegen den Freisinn.
Gibt es im politischen Geschäft einen erhebenderen Ausblick auf Land und Leute als vom FDP-Präsidenten-Podest aus – frei nach allen Seiten?
Wer aber wagt sich auf diesen Stuhl in Zeiten des Populismus rechts aussen sowie des Infantilismus links aussen? Vertreter des Freisinns, denen Zukunft zuzutrauen wäre, inszenieren ihr Desinteresse mit Gesten des Bedauerns. Eine «Findungskommission» ist sichtlich überfordert, die Figur zu finden, die das Profil der Partei verkörpern könnte. Neuerdings möchte sich ein gutwilliges Duo den Vorsitz teilen, ganz nach dem Modell der Sozialdemokraten, die damit die Führung der Partei zum Verschwinden gebracht haben.
Ein Malaise von wahrhaft schweizerischer Dimension. Selbst die personelle Lücke, die der Freisinn zur Schau stellt, verkörpert das grosse Ganze: Der Schweiz fehlt es an bürgerlicher Kultur – an politischen Antworten auf rechte Grossmannssucht und linkes Genderkleinklein.
Einen die gesellschaftlichen Sphären überstrahlenden Freisinn – vor
gar nicht allzu langer Zeit gab es das noch. Für die jüngste Hoch-Zeit politischer Kultur stehen Namen, die in dieser Kolumne wiederholt genannt wurden: Petitpierre, Tschopp, Pidoux, Rhinow, Mühlemann, Iten, Reich, Schoch, Villiger, Barchi, Salvioni, Steinegger – um nur die geläufigsten zu nennen.
Und über allen thronte die Botero-Figur Bremi. Zum 700. Geburtstag der Eidgenossenschaft liess dieser Bismarck der Schweizer Wirtschaft im Nationalratssaal Friedrich Dürrenmatts «Stall des Augias» aufführen – ein Stück, das vom Publikum nur als helvetische Selbstkritik verstanden werden konnte, ebenso ätzend wie amüsant.
Es war ein Fest fürs Vaterland.
Ein Fest des Freisinns.
Liberale Denkwelten gehörten zum parteilichen Selbstverständnis. Im Tessin hielt Sergio Salvioni philosophische Wochen ab, unter anderen mit dem Demokratie-Denker Karl Popper; in Bellinzona versammelte Pier Felice Barchi politische Debatten-Zirkel, die bald auch in Zürich Nachahmer fanden; in Bern genoss die intellektuelle Elite des Freisinns
an «Dîners Débats» im Hotel Bellevue den Dialog mit Gästen wie Helmut Schmidt, Golo Mann, Edzard Reuter oder Hans-Dietrich Genscher.
Kultur ist Politik, und Politik ist Kultur – so lautete das freisinnige Selbstverständnis.
Einst!
Heute fehlt dem Freisinn – dem schönsten aller politischen Begriffe – diese Dimension. Denn dazu bedürfte es an dessen Spitze Köpfe, die mehr buchstabieren können als Juristendeutsch und Wirtschaftswelsch.
Es wäre ein ergreifender Augenblick, wenn ein FDP-Präsident dieser Tage kundtäte, er lese gerade Winston Churchill – aus Ehrfurcht vor Wolodimir Selenski.
Ja, Leser braucht der Freisinn! Denker braucht der Freisinn! Bücherverliebte, Bildungsbürger klassischen Profils – quillt doch alles Neue und Neuste im Überfluss aus dem tiefen Datenschlund. Dies sei die Zukunft, heisst es mahnend.
Und wenn es tatsächlich die Zukunft wäre?
Dann müssten freisinnige Politiker umso entschlossener zu Thomas Manns «Zauberberg» greifen – das Gestern verstehen suchen, um das Heute zu begreifen. Wie Odo Marquard lehrte, der deutsche Philosoph moderner Bürgerlichkeit (1928–2015):
«Zukunft braucht Herkunft.»
Die Schweiz braucht Zukunft. Ihre Herkunft heisst Freisinn.