Frühfranzösisch – was ist das? Das Gegenteil von Spätfranzösisch? Natürlich nicht. Es ist der frühe Französischunterricht an der Primarschule – gegenwärtig arg umstritten, weil angeblich zu anspruchsvoll für Schulanfänger.
Aber können Kinder tatsächlich zu jung oder zu dumm sein für die zweite grosse Landessprache – für die frühe oder die späte?
Ja, darum gehts: um das Land und seine Sprache – die Sprache der Welschen. Die sprechen nämlich Französisch: eine Welt-Kultur-Sprache – angeblich ein Ungetüm, das Glarner und Zürcher und Luzerner Kinder so sehr überfordert. Wäre das wirklich so, würde es bedeuten:
Die Schweiz überfordert die Schweiz.
Diese eigenartige Feststellung weist auf den eigenartigen Umstand hin, dass es neben der Schweiz noch eine andere Schweiz gibt, sogar eine ganz und gar andere – und neben diesen zwei Schweizen gibt es mindestens noch eine weitere Schweiz. Ist es die dritte, die vierte? Und welche wäre dann die erste? Oder die zweite?
Eine Rangfolge der Schweizen: Kann man sich noch tiefer verheddern in einer Nation, die man so selbstverständlich als die seine betrachtet?
Die Willensnation, wie politisch gebildete Bürger sie tapfer nennen – und mithin so, wie sie ist, als gewollt betrachten:
Von St-Ursanne bis Chiasso, von Romanshorn bis Genève.
Immer ist die Schweiz mitgemeint, wenn Ortsnamen in einer anderen Landessprache erwähnt werden. Und das sollen Schweizer Primarschüler nicht lernen – kennenlernen: sprachlich und darum kulturell?
Bei alledem geht es nicht einfach um Verständigung. Die liesse sich auch durch Globalesisch bewerkstelligen, in den grösseren Städten längst eine Realität – wo auch Cappuccino mit Croissant gern auf Englisch bestellt werden. Obwohl beides landessprachliche Begriffe sind.
Es geht ums Verstehen, ums Begreifen einer anderen Kultur im Klangkleid ihrer Sprache: im Vokal-Wohllaut des Italienischen, in der geschliffenen
Eleganz des Französischen, im Reichtum des Rätoromanischen, ganz besonders in der Poesie des schweizerischen Deutsch mit seiner sensiblen Distanz zwischen Muttersprache und Landessprache – aufs Vortrefflichste zu geniessen in den Werken von Weltautoren wie Frisch und Dürrenmatt.
Was wir unseren Primarschülern von der ersten Stunde an doch alles zu bieten haben!
Die Welt bewundert uns dafür. Wir haben daraus eine Nation gemacht – sind aber soeben dabei, sie zu vergessen, ja, zu verleugnen.
«Frühfranzösisch» lautet der schändliche Begriff, der uns die Freude an diesem kulturellen Reichtum vermiesen soll – erfunden von Verwaltern, die sich Pädagogen nennen.
Die freie westliche Welt rückt zusammen, am deutlichsten in Europa. Die Schweiz indes rückt auseinander, nicht zuletzt durch Erhöhung des Abstands zwischen Deutsch und Französisch. Es wäre Zeit für Schulreisen über all die vielen romantischen Sprachbrücken hinweg: ins rebellische Wallis, in den ungebärdigen Jura, in das katholisch-geläuterte Freiburg, ins hugenottisch-disziplinierte Neuenburg, ins bernisch-autoritäre Waadtland, ins calvinistisch-hochnäsige Genf. Überall können Schweizer Schüler sie finden: Wege in die andere Sprache – in die andere Schweiz.
In die Schweiz.
Ja, das Erlernen von Sprache macht auch Mühe. Doch was man liebt, darf durchaus mühsam sein. Liebe ist anspruchsvoll. Die Schweiz ist anspruchsvoll.
Von früh bis spät.