Die Kolumne
Einsam wie Churchill

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Frank A. MeyerPublizist

Der «Tages-Anzeiger» sagte es in einer Schlagzeile so: «Selenski spielt den Ball an Trump zurück». Ist dagegen etwas einzuwenden? Natürlich nicht. Es war ja nur eine von Dutzenden Überschriften an diesem Tag. Journalismus eben. Und doch lässt sich an dieser Wortwahl durch das Zürcher Blatt etwas sichtbar machen.

Selenski «spielt den Ball». Selenski spielt. Der Krieg als Ballspiel.

Da sind wir also angekommen: Die Bomben auf die Ukraine, die Toten der Ukraine, die Verzweiflung von Selenski – Nachrichten-Normalität, Reporter-Routine, News-Alltag.

Und wir haben mitbekommen: Selenski trägt nicht mehr seine olivgrünen T-Shirts, sondern ein schwarzes Hemd mit geschlossenem Knopf, darüber einen schwarzen Veston.

Der Ukraine-Präsident – reif für den «Vogue»-Titel.

Stattdessen reist der Krieger aus Kiew in die belagerte Stadt Kupjansk – wo die Russen längst zu sein behaupten – und lässt sich für die Weltöffentlichkeit filmen. Nicht in Washington, nicht in Berlin, nicht in London, nein, Selenski ist ganz einfach dort, wo er sich hingehörig fühlt, und zwar täglich: bei den Soldaten seines Landes, bei den Menschen seines Landes. Mit ermutigenden Botschaften. Ein Mutmacher in Zeiten der Verzweiflung.

Der Mutmacher der freien Welt!

Für die freie Welt «spielt» er den Ball.

So weit ist die westliche Welt auseinandergerückt: Der eine kämpft den Kampf der anderen – für die jedoch ist sein Kampf inzwischen ein Spiel, das immer weniger gefällt, weil er doch Ruhe geben und dem Kreml endlich abtreten könnte, was dem ukrainischen Volk gehört. Wir habens nämlich gehört, das Kriegsgetöse, wir habens doch längst zur Kenntnis genommen, das Schlachten und Sterben. Jetzt könnte er vielleicht endlich ein paar Landesteile opfern, damit die Waffen schweigen.

Einst war uns der Widerstand gegen den Schurken im Kreml teuer. Neuerdings ist er uns zu teuer.

Kiew geht es ums Ganze. Uns im Westen würde weniger genügen. Kriegswissenschaftler und Militärspezialisten rechnen eilfertig vor, weshalb die Rechnung des Weltpolitikers Wolodimir nicht aufgehen kann. Und dass dieser frühere Fernseh-Comedian sich vielleicht besser mit Ballspielen begnügen sollte.

Einige Nationen, deren Erinnerung in die nicht so fernen Jahre unter der Herrschaft der Moskauer Weltverderber zurückreicht, wissen, worum es wirklich geht: um Freiheit und Recht und Demokratie in Estland, in Lettland, in Litauen, auch in Finnland, auch in Polen.

Worum es ganz konkret und elend tödlich geht, wissen all die Völker, die frei atmen, seit die Sowjetunion Geschichte ist – nun aber wiederkehrt als Phantom eines fatalen Fanatikers, dessen Namen auszusprechen jedem anständigen Bürger widerstrebt.

Was fällt den Geschichtsbewussten zu Wolodimir Selenski ein? Grossbritanniens Krieg gegen Deutschland, die Luftschlacht über England 1940, die Verwandlung der britischen Ohnmacht in den entschlossenen Schicksalskampf der freien Welt.

Der Krieger Winston Churchill.

Wohl wahr, Geschichte wiederholt sich nicht. Aber die Geschichte von einsamem Mut und unbeirrbarem Durchhaltewillen, die kann sich wiederholen. Wie sie es gerade tut.

Selenski ist Churchill – und einsam wie er.

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