Die Kolumne
Die Liebeserklärung

Publiziert: 26.10.2025 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 26.10.2025 um 10:41 Uhr
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Frank A. MeyerPublizist

Da war also tatsächlich zu lesen: «Haben wir uns gern? Ja, wir haben uns gern.» Und wo war das zu lesen? Auf einer handgeschriebenen Einladung? Nein, in den Schlusssätzen eines Berichts über die Delegiertenversammlung der FDP.

Diese Sätze im Zürcher «Tages-Anzeiger» klangen wie eine Liebeserklärung der Freisinnigen an ihre eigene Partei: Weil sie soeben den neuen Verträgen mit der EU zugestimmt und das Ständemehr zu diesen Verträgen für überflüssig erachtet hatte.

Diesen Gefühlsausbruch sollte man einmal einem Deutschen, einem Franzosen, einem Holländer, einem Schweden – einem Europäer – zu erklären versuchen.

Der Schweizer verstehts: Mit dem Freisinn ist etwas geschehen – etwas Emotionales, was, allein aus dem politischen Blickwinkel betrachtet, völlig unvorhergesehen erscheinen muss.

Die Partei, die der republikanischen Schweiz 1848 überhaupt erst ihre Gestalt gab, die Partei, die länger als 100 Jahre diese ihre Republik politisch prägte: Diese Partei meldet sich urplötzlich zurück – nach einem mehr als zwei Generationen anhaltenden Verzicht auf die kulturelle Gestaltung des Landes!

Wo der Freisinn einst den Ton angab, pöbeln heute die Grünen und polemisieren die Roten – und das in der Bundesstadt Bern! Das helvetische Bürgertum, die beste Bühnenbesetzung im europäischen Demokratiegeschehen, gab sich bis Samstag vergangener Woche der ökonomischen Vereinsmeierei hin, Vorteilchen für Vorteilchen für Vorteilchen.

Und jetzt also das ganz grosse Ja zu Europa – darf man sagen: das historische Ja? Man darf sogar sagen: das fast schon intime Ja zur Europäischen Union. Denn anders ist die folgende Wendung nicht zu erklären:

«Haben wir uns gern? Ja, wir haben uns gern.»

Die Liebeserklärung des Freisinns an sich selbst könnte der Anfang von etwas Grösserem sein. Zum Beispiel der Anfang einer Rückeroberung der politischen Kultur durch das Bürgertum. Oder, etwas gewählter formuliert: der Anfang einer bourgeoisen Renaissance. Oder, unzimperlich ausgedrückt: die Wiederherstellung bürgerlicher Umgangsformen in der Politik, von Höflichkeit und Anstand bis Zuhören und Argumentieren.

Denn genau das fehlt dem bourgeoisen Umgang miteinander: das Wissen, wo Messer und Gabel hingehören – und wann man sie wofür verwendet.

Tischmanieren!

Das Bürgertum entdeckt sich selbst – entdeckt sich neu – und findet Gefallen an dem, was es da entdeckt. Was bedeutet das politisch? Es gibt noch, was für eine Demokratie, was für den demokratischen Rechtsstaat unverzichtbar ist: Bürgerlichkeit als gesellschaftliche Kultur. Oder wie Hannah Arendt diese Erkenntnis einst in Worte fasste:

Freiheit ist Politik.

Also ist auch Freisinn Politik. Lässt sich dieser Anspruch noch steigern? Definieren lässt er sich: Freisinn ist Bürgerlichkeit, Bürgerlichkeit ist die Verkörperung demokratischer Lebensform, weit übers Private hinaus, denn Freiheit beginnt dort, wo das Private an seine Grenzen stösst, wo die gesellschaftliche Verpflichtung dem Bürger das Engagement – das Politische – aufnötigt.

Bürgerlichkeit verlangt das Bemühen, mit einem Parteitag, mit Rede und Antwort, mit Widerstreit und Zustimmung dem Land den Weg zu weisen. Der Freisinn tut dies gerade jetzt – mit allerbesten Gefühlen. Was wollen wir mehr?

Ja, wir wollen tatsächlich mehr. Mehr Freisinn im umfassenden Sinn, auch im sozialen, auch im christlichen, auch im libertär gefassten Sinn: Verantwortungssinn fürs grosse Ganze, das uns im Kleinteiligen leben lässt – in der Gemeinde, in den Institutionen der freien Gesellschaft, in der Nachbarschaft, in der frei gewählten Gemeinschaft.

Das Ich als Wir.

Es ist ein grosser Anspruch, den man dem Freisinn da um den Hals hängt. Doch er hat diese Herausforderung verdient – als Lust und als Last.

Es wäre dem Land zu wünschen, dass es den historischen Freisinn plötzlich wieder gäbe, einfach so, aus dem Nichts einer Delegiertenversammlung heraus und so gewaltig vielgestaltig wie einst, als er sich noch als Schweiz fühlte und deshalb mit diesen zwei Sätzen alle Schweizer meinte: «Haben wir uns gern? Ja, wir haben uns gern.»

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