Die Kolumne
Die Frage des Benimms

Publiziert: 00:01 Uhr
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Frank A. MeyerPublizist

Plötzlich ist die «Bürgerlichkeit» in aller Munde: Sie wird gelobt, sie wird verunglimpft. An Fragen der Bürgerlichkeit kann man sich delektieren: Überlebt sie oder verschwindet sie? Ist sie noch zu retten oder längst verloren?

Was ist das überhaupt, Bürgerlichkeit? Seit Jahren steht sie für rechtes Denken, für Rechtsaussen gar – allen wahren Demokraten ein Graus. «Gegen rechts» gehen immer wieder Tausende auf die Strasse.

Bürgerlichkeit: ein Schimpfwort der Politik.

Bei nüchterner Betrachtung aber ist Bürgerlichkeit der Schlüsselbegriff der demokratischen Denkwelt: Sie definiert die Stellung des Bürgers in der Gesellschaft – als Freier und Gleicher. Diese Grundbegriffe des bürgerlichen Seins richten den Blick auf die Werte der bürgerlichen Kultur. Dorthin, wo der Einzelne und die Gesellschaft ihre Form finden: als Bürgerschaft, wobei man durchaus in den Plural wechseln darf – als Bürgerschaften.

Der bürgerlich verfasste Staat ist ein Rechtsstaat, der die Rechte und Ansprüche der Menschen schützt, die ihn gestalten, bisweilen auch verunstalten, jedenfalls den historischen Zeitläuften entsprechend verändern. Der Rechtsstaat ist allerdings nicht immer nur ein Grund zum Jubeln. Denn er verpflichtet seine Bürger aufs Gesetz.

Man kann auch sagen, dass er vom Bürger am Tisch der Gesellschaft «Benimm» verlangt. Die Orientierung an einer Leitkultur, die der bürgerlichen Alltagskultur den Rahmen setzt: das bürgerliche Bewusstsein. Es klingt abstrakt, es klingt kompliziert – und ist doch so einfach:

Wie benehme ich mich?

Könnte es sein, dass diese Frage die freie Gesellschaft – die westliche Gesellschaft – in vier Worte fasst? Das hiesse dann: Bürgerlichkeit ist eine Philosophie, weil sie alles beinhaltet, was für uns von Wert ist, angefangen mit der Freiheit in der Politik bis hin zur Sauberkeit auf der Strasse, vom Benehmen im Geschäftsleben bis zu den Manieren am Familientisch.

Bürgerlichkeit ist nicht einfach Freiheit. Sie ist auch und vor allem Gleichheit, gelebte Gleichheit, denn ihre Bedingungen – der Benimm – binden jeden Bürger: Man ist ordentlich angezogen, den gesellschaftlichen Umständen entsprechend, man hat einen wohldefinierten persönlichen Auftritt, steht für ein Selbstgefühl mitten unter den vielen anderen, man kommuniziert in kultivierter Sprache. Bürgerliches Auftreten ist gelebte Gleichheit.

Ich bin ich!

Ich wähle, mit wem ich mich zum Wir verbünde, um beispielsweise die Gesellschaft zu verändern, um Ungerechtigkeiten zu bekämpfen, um zu gestalten, was der Gestaltung bedarf, weil es neu ist oder weil es ungestaltet zum Problem für die Gesellschaft werden könnte.

Bürgerlichkeit setzt beispielsweise den Rahmen für künstliche Intelligenz sowie deren Neben- und Folgeentwicklungen. Ganz ähnlich hegt Bürgerlichkeit den Kapitalismus ein, wenn er mal wieder zu entgleisen droht. Bürgerlichkeit bedeutet ständige Auseinandersetzung – auch mit sich selbst.

Der Bürgerlichkeit.

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