Die Kolumne
Das Gift der Toleranz

Publiziert: 00:06 Uhr
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Aktualisiert: 07:54 Uhr
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Frank A. MeyerPublizist

Was genau war der 8. Mai 1945? Die Frage wird in Deutschland heftig diskutiert. War es ein Tag der Niederlage? War es ein Tag der Befreiung? Vor 40 Jahren, am 8. Mai 1985, erklärte Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Ende des Zweiten Weltkrieges zum «Tag der Befreiung». 

Das galt damals als Sensation: Endlich Schluss mit dem deutschen Selbstmitleid, an diesem Datum einer Niederlage gedenken zu müssen. Endlich der erlösende Satz aus berufenem Mund: Richard von Weizsäcker war Hauptmann in einem Infanterieregiment der Wehrmacht. Er hatte den Überfall auf Polen und den Russlandfeldzug mitgemacht. 

Befreiung! Ein grosses Wort. Ein allzu grosses?

Der hehre Begriff provoziert die Frage: Von was wurden die Deutschen vor 80 Jahren befreit? Die naheliegende Antwort: von den Nazis. Aber war das so? Wäre es so gewesen, würde das bedeuten: Die Nazis haben das deutsche Volk unterworfen, zwölf Jahre lang, von 1933 bis 1945. Die Alliierten mussten einmarschieren, um es von der Nazi-Diktatur zu befreien. 

Zu diesem entlastenden Erinnerungsbild ist anzumerken: 1945 war jeder fünfte erwachsene Deutsche Mitglied der Nazipartei, die nicht einmal jeden Bewerber akzeptierte und den Zustrom sogar mit einer jahrelangen Aufnahmesperre behinderte. Das Nachrichtenmagazin «Spiegel» sagt es so: «Zu einem normalen Leben während des Nationalsozialismus gehörte auch, an Verbrechen mitzuwirken oder sie durch Wegschauen zumindest hinzunehmen.»

Es gehörte dazu der frenetische Jubel von Massen, die den Hitlergruss zeigten, wo und wann immer sich die Partei inszenierte.

Bis in den hintersten Winkel des Reichs hatte sie Mitglieder und Mitmacher. Ihre Gesetze gegen die Juden, ihre Verordnungen zur Liquidation jedweder Freiheit waren nicht bloss bekannt, sie wurden prahlerisch publiziert: Das deutsche Volk sollte wissen, was in Deutschland geschah. 

Und das Volk wusste! 

Unübersehbar war die industriell organisierte Vernichtungsmaschinerie: 20 Konzentrationslager mit mehr als 1000 Aussenlagern wurden gut sichtbar in der Nähe von Dörfern und Städten angesiedelt. 13 Millionen Menschen waren zur Zwangsarbeit verpflichtet, die sie – vielfach unter tödlichen Qualen – vor den Augen der Deutschen verrichteten. 

Nazi-Normalität – deutscher Alltag.

Mit dem Begriff Befreiung stellt sich die Frage: Von wem wurde das deutsche Volk am 8. Mai 1945 befreit? Könnte es sein, dass die Antwort lautet: Die Deutschen wurden von den Deutschen befreit – also von sich selbst?

Oh doch, es gab sie, die Gegner der Gleichschaltung, die sich in die sogenannte «innere Emigration» zurückzogen! Aber es war eine kleine Minderheit, die erst im rechtfertigenden Erinnerungsgerede nach dem Krieg gewaltig anschwoll: Alle wollten plötzlich Opfer sein – Opfer der Nazis, Opfer des alliierten Bombenkriegs, Opfer der Vertreibung.

Auch im Lichte der Nachkriegszeit war die Befreiung für Millionen keine Befreiung: Stalins Rote Armee stiess zwar bis zum Führerbunker vor. Aber befreiend war der russische Sieg nicht, der in der Nacht zum 9. Mai als «bedingungslose Kapitulation» durch den Oberkommandierenden der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, in Berlin-Karlshorst unterzeichnet wurde. 

Osteuropa wurde alles andere als frei: Die Sowjetunion machte aus den besetzten Ländern Satellitenstaaten unter dem Kommando aus Moskau dirigierter kommunistischer Parteien. Der linke Nachkriegsmythos, die Soldaten der UdSSR seien nicht nur Sieger gewesen, sondern die kriegsentscheidenden Befreier, lässt sich mit einem Blick zurück widerlegen:

Die Sowjetunion brachte im «Vaterländischen Krieg», wie Josef Stalin ihn nannte, die meisten Opfer: 20 Millionen, davon acht Millionen Ukrainer, davon fünf Millionen Zivilisten – ein Blutzoll ohnegleichen. Doch die deutsche Kapitulation festigte die Diktatur Stalins und seiner Nachfolger, nicht zuletzt deren kriminelles Gulag-System, das – wenn auch nicht gleichzusetzen mit dem
Holocaust – weitere Millionen von Menschen vernichtete. 

Die Befreiung des westlichen Europa erkämpften die amerikanischen und britischen Alliierten mit der Landung auf Sizilien am
10. Juli 1943 und sechs Tage später im kalabrischen Salerno, vor allem aber mit der Invasion des 6. Juni 1944 an den Stränden der Normandie. Ihr Kampf gegen Nazideutschland hatte seinen Ursprung im unbeugsamen Freiheitswillen des britischen Premierministers Winston Churchill. 

Churchill und Stalin stehen für Freiheit und Unfreiheit des Sieges über Deutschland. 

Der «Tag der Befreiung», wie ihn Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 nannte, wurde erst am 9. November 1989 mit dem Mauerfall für ganz Europa Wirklichkeit.

Doch damit ist die Geschichte diktatorialer Machtentfaltung noch immer nicht zu Ende erzählt: In Moskau hat sich ein Regime installiert, das Russland – nach einer kurzen freiheitlichen Atempause – erneut mit seiner vordemokratischen, ja demokratiefeindlichen Geschichte verknüpft, von den Zaren über die Kommunisten bis hin zu Putin, der das russische Volk mithilfe von Oligarchen und Patriarchen drangsaliert. 

Ist Putin Kommunist, ist er Faschist? 

Der einstige Geheimagent der KPdSU hat vor drei Jahren die Ukraine überfallen und mit seinen Terror-Truppen schlimmste Verbrechen an der Bevölkerung begangen. Er unterdrückt Kritik an seinem Machtwahn mit Freiheitsentzug und mit Folter. Jüngst starb die 27-jährige ukrainische Journalistin Victoria Roshchyna in russischer Haft und wurde – aufs Schrecklichste zugerichtet – ihren Angehörigen übergeben. Der Leiche fehlten die Augäpfel, Teile des Kehlkopfs und des Gehirns. 

Im Kreml herrscht erneut ein Verbrecher. 

Die Geschichte der Befreiung wird wohl nie ganz zu Ende erzählt sein. Und auch künftige Generationen müssen sich mit deren zentraler Lehre vertraut machen: Diktaturen und Despotien kapitulieren nur vor Widerstand – vor Bürgern und Völkern, die eine Unterwerfung unter die Willkür verweigern, zuerst einzeln, dann in Massen. Und, wenn nötig, mit Waffen. 

Ist sich der Westen dieser Lehren des 8. Mai 1945 bewusst? China und Russland finden in der freien Welt noch immer Verteidiger, die diplomatische Vernunft einfordern – Diktaturen seien akzeptabel, sofern wirtschaftlich lukrativ. Was dabei vergessen wird: Auch Nazi-Deutschland profitierte viele Jahre lang von solchen Fehleinschätzungen. 

Ist sich die Schweiz bewusst, dass jedes Schönreden von Despotien und Diktaturen den Keim zum Schlimmsten in sich trägt? 

Das Gift der Toleranz gegenüber totalitärer Herrschaft.

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