Die Kolumne
Aus der Geschichte lernen

Publiziert: 00:02 Uhr
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Frank A. MeyerPublizist

Wer hat nicht schon die Schlagzeile gelesen: «Der Westen geht unter»? Wem wäre nicht schon die Prophezeiung begegnet: «Die freie Welt ist am Ende»? Wer sah sich nicht schon mit der Warnung konfrontiert: «Die Demokratie scheitert»?

Dutzende Wissenschaftler beschwören die Apokalypse in gewichtigen Werken; willfährige Journalisten verhelfen den Professoren zu lukrativer Publizität; Politiker trumpfen in Talkrunden mit den angelesenen Spekulationen auf.

Und dann noch Donald Trump.

Ist überhaupt zu retten, was bis vor kurzem so fest im Erdreich der Geschichte verwurzelt schien: die Freiheitswelt des Westens? Oder sollten wir besser schon nach dem rettenden Ufer Ausschau halten, auf das wir uns mit kühnem Tell-Sprung absetzen können?

Den einen kommt China in den Sinn, mit der ultramodernen Stadt Shenzhen: Die Kapitale der dortigen Elektronik- und Kommunikationsindustrie, 1979 gegründet, zählt heute 17 Millionen Einwohner. Sie geniessen das höchste Pro-Kopf-Einkommen der Volksrepublik.

Das Reich der Mitte als kongeniales Konstrukt zweier Systeme westlichen Ursprungs: Kommunismus und Kapitalismus. Eine Tellsplatte für Wirtschaftsflüchtlinge.

Auch Singapur bietet sich an für den rettenden Sprung: reich und erfolgreich, sicher und sauber. Vor allem effizient, weil ohne störende Mitsprache der Bürger, unerbittlich dem ökonomischen Erfolg hingegeben.

Verängstigte Westler blicken hoffnungsvoll nach Osten, von wo die Zukunft herüberzuleuchten scheint: die Morgensonne des wirtschaftlichen, wenn nicht gar des gesellschaftlichen Heils.

Ein rettendes Faszinosum für Tellensöhne grossen Geldes! Und geringen Geistes?

Doch die Welt von Demokratie und Rechtsstaat ist keineswegs dem Niedergang geweiht. Sie lebt nur gerade besonders heftig. Sie debattiert und streitet, streng und freudig zugleich – ganz im Geiste der offenen Gesellschaft, die neue Wahrheiten ebenso hartnäckig wie gründlich prüft, der Kritik unterzieht und zu falsifizieren sucht: Gibt es womöglich doch noch etwas Richtigeres als das gerade Richtige?

So funktioniert die Unruhe der Freiheit: als Antrieb des demokratischen Uhrwerks. Die Demokratie ist eine Ordnung der Unordnung. Friedrich Dürrenmatts «Durcheinandertal». Die Anarchie des Denkens als politische, als wirtschaftliche, als wissenschaftliche Kultur.

Hat diese Welt der niemals endenden gesellschaftlichen Nervosität nicht schon zahllose Niederlagen überlebt, die den Niedergang anzukündigen schienen? Zum Beispiel am 4. Oktober 1957, als die totalitäre Sowjetunion den ersten künstlichen Erdsatelliten in die Umlaufbahn jagte – vor den freien, hypermodernen USA? Die technische Potenz der Kommunisten stellte die technische Dynamik der kapitalistischen Führungsnation in den Schatten. Der «Sputnikschock» – ein Desaster!

Am 27. Oktober 1961 standen sich am Berliner Checkpoint Charlie sowjetische und amerikanische Panzer schussbereit in Sichtweite gegenüber – und die Führungsmächte des Kalten Krieges wussten weder ein noch aus. Wie liess sich diese friedensbedrohende Verknäuelung lösen? Schliesslich ging es: im Rückwärtsgang – erst 50 Meter der eine, dann der andere, bis eine halbwegs beruhigende Distanz erreicht war.

Die riskanteste Bedrohung der westlichen Welt ergab sich 1963 durch die Lieferung sowjetischer Raketen an Fidel Castros kommunistisches Kuba. 13 Tage dauerte die vernichtungsschwangere Konfrontation auf hoher See – bis der sowjetische Waffenkonvoi beidrehte und abzog.

Die Vormacht des Westens erschütterte sich auch selber: mit der Ermordung von US-Präsident John F. Kennedy 1963; mit der Ermordung seines Bruders Robert Kennedy 1968; mit der Ermordung des schwarzen Freiheitspredigers Martin Luther King 1969.

Ist das politische Irrlicht Donald Trump tatsächlich ein Warnlicht für das bevorstehende Ende des Westens – das Ende der
Demokratien, der Rechtsstaaten, der wohlgeordneten wilden Freiheitsnationen?

Ein Blick auf die jüngere Geschichte rückt dieses allerjüngste Geschehen in realistische Dimensionen.

Natürlich gibt es sie, existenzielle Herausforderungen der westlichen Lebenswelt, von aussen wie von innen! Nicht zuletzt von Seiten derer, welche die Freiheitssehnsucht ihrer eigenen Untertanen fürchten. Wer sich den Volkskongress der kommunistischen Partei Chinas vor Augen führt, der blickt auf die Ästhetik absoluter Unfreiheit. Wer in China Verträge schliesst, der schliesst Verträge mit der kommunistischen Partei.

Diese totalitäre Macht bedroht die Freiheit, wo und wann sie kann – auch durch tägliche Angriffe auf die Kommunikationsnetze des Westens. Die andere totalitäre Grossmacht terrorisiert eine Nation, die es gemäss dem Geschichtsbild des Kreml-Herrschers gar nicht geben dürfte: die Ukraine – ein Land auf dem Weg in die gesittete Welt des Westens.

Die Freiheit, die wir so gedankenlos geniessen, weil sie doch schon immer da war, ist aber auch von innen bedroht: von rechts aussen durch einen verführerisch-einfältigen Populismus, der die Emotionen zukunftsängstlicher Bürger bewirtschaftet; von links aussen durch eine überhebliche Elite wohlstandsverwöhnter Söhnchen und Töchterchen, die dem in ihren Augen einfältigen Volk politisch korrektes Verhalten beibringen will, vom Verzicht aufs Auto über das Gendern bis zum klimagerechten Heizen.

Die extremen politischen Lager nehmen für sich in Anspruch, das Gute und das Wahre zu verkünden, wodurch jeder Bürger, der Widerspruch wagt, zum Sünder wird.

Für jeden denkenden Menschen ist das eine Provokation: Die Regeln der offen zweifelnden und deshalb offen zugänglichen Gesellschaft werden von quasi-religiösen Ideologien bestritten, für die alles Sündenfall ist, was ihren Glauben und ihre Gebote infrage stellt.

Religion statt Politik – Religion statt Freiheit.

Genau das ist die wirkliche Gefahr für den freien Westen: geschlossene Systeme in der Welt und geschlossene Weltsicht
im eigenen Land.

Der Kampf gegen diese doppelte Bedrohung: Das ist lustvoll gelebte Demokratie!

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