Freisinn ist ein grosses Wort! Ein hohes Wort, dem das Ausrufezeichen gebührt! Ein Wort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen kann. Freier Sinn, das ergibt Sinn. Man kann auch tief einatmen und befreit aufseufzen: Freiheit und Sinnlichkeit!
Das Wort ist das Wort der Schweiz – ihr Gründungsbegriff.
Wie soll die Freisinnig-Demokratische Partei der nationalen Urvokabel «Freisinn» gerecht werden? Diesem schönsten Namen der politischen Freiheits-Kultur?
Thierry Burkart hat es versucht. Der Präsident der FDP hat getan, was er konnte: liebenswürdig, gradlinig, so weit es die Umstände erlaubten, Tag und Nacht bemüht, der demokratischen Wirklichkeit gerecht zu werden, ohne die gloriose Parteigeschichte zu verraten. Mit Thomas Mann gesprochen: «Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen.»
Allerdings hat die Schweiz im tiefen Brunnen des Freisinns dann doch ein präzises Gründungsdatum: den 12. September 1848, als die revolutionäre Verfassung beschlossen wurde – die republikanische Provokation inmitten eines von Monarchen und Fürsten beherrschten Europa. Aus Sicht der damals Herrschenden war diese Staatsgründung reiner Radikalismus.
Radikal – das ist in der Tat die andere klassische Charakterisierung des Freisinns, der in der Westschweiz unter dem Namen «les radicaux» firmiert, im Tessin als «i radicali». Das noble Prädikat wird heute meist missbraucht zur Kennzeichnung von Extremisten links und rechts. Dabei bedeutet es nichts anderes, als an die Wurzel der Probleme zu gehen.
Ja, der Freisinn hat zu tun, wenn er seinem Namen gerecht werden will. Aber verfügt er über den dazu notwendigen Blick für die Tiefe und Breite seiner historischen Verantwortung? Vor zwei Jahren verpasste die freisinnige Führung unter dem beflissenen Thierry Burkart die Gelegenheit, der Schweiz 175 Jahre nach Gründung des Bundesstaates mit einem grossen Denk-Fest vor Augen zu führen, was sie ist:
Freisinnig!
Anstelle der selbst- und geschichtsvergessenen Partei tat dies der im März verstorbene Dichter Peter Bichsel, eingeschriebenes Mitglied der Sozialdemokraten, als er sagte:
«Eigentlich sind wir alle freisinnig.»
Sein Bekenntnis war kein parteiliches, sondern ein kulturelles: zum Freisinn als Kultur der schweizerischen Demokratie.
Der Freisinn als Kultur: Kann man FDP-Funktionäre schlimmer überfordern? Man muss! Und es gelang ja immer wieder. Die letzte Phase ausstrahlender freisinniger Kultur liegt gerade mal eine Generation zurück. Sie ist verbunden mit den Namen engagierter Intellektueller wie Petitpierre, Tschopp, Salvioni, Barchi, Marty, Iten, Reich, Rhinow, Steinegger, Couchepin, Chevallaz, Kopp, Schoch – über Jahre angeführt vom Zürcher Wirtschaftsmächtigen Ulrich Bremi, der mit seiner unbändigen Neugier auf anderes Denken den Freisinn in seiner ganzen Breite und Weite verkörperte.
1991 liess Bremi zur 700-JahrFeier der Eidgenossenschaft Friedrich Dürrenmatts Stück «Herkules und der Stall des Augias» im Nationalratssaal aufführen, eine parodistisch-schweizkritische Inszenierung – wäre ein souveräner Akt wie dieser heute noch denkbar?
Dem Kürzel FDP fehlt das K für Kultur.
Die kulturelle Dimension von Politik überlässt die Partei den Linksgrünen, ihren wohlstandsverwahrlosten Kindeskindern, autoritär-übergriffigen Gender-Woken, die sich gerade der Gesellschaft bemächtigen – während der Freisinn wirtschaftliche Vereinsmeierei betreibt.
Wie könnte die helvetische Gründerpartei diesem Manko begegnen? Durch die Gründung einer freisinnigen Freiheits-Stiftung. Durch das Lostreten einer historisch-aufklärerischen Debatte über den Freisinn. Durch Mobilisierung der Bürgerschaft gegen die säkulare Religion der grünen Weltretter. Durch erneute Hinwendung zum historischen Partner Sozialdemokratie – der die freisinnige Freiheitsessenz zur Immunisierung gegen den grün-religiösen Gut-Böse-Glauben bitter nötig hätte.
In Zeiten des wuchernden Klein-Kleins der Politik wäre der Frei-Sinn dann wieder die befreiende Bewegung der Schweiz. Wie einst, als die Eidgenossenschaft sich zur Schweiz wandelte – wofür sie heute auf allen Kontinenten bewundert wird.
Die Welt erwartet etwas vom Alpenland – jedenfalls mehr als die Errichtung eines Resorts für Reichste.
Auch dafür trägt der Freisinn die Verantwortung.