Editorial zum Frauenstreik vom 14. Juni
Es ist Zeit, den Frauen ihre Würde zurückzugeben

Der Frauenstreik vom 14. Juni verfolgt ein ambitioniertes Ziel: Es geht um eine neue Sicht auf die Welt.
Publiziert: 13.04.2019 um 23:59 Uhr
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Sie probt schon schon mal: Lotti Baumann, Präsidentin des Aargauer Bäuerinnen und Landfrauenverband, will am 14. an den Frauenstreik und dort im Liegestuhl Cüpli trinken.
Foto: Siggi Bucher
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Gieri CaveltyKolumnist SonntagsBlick

Das vierbändige «Schweizer Geschichtsbuch» aus dem Cornelsen Verlag gilt hierzulande als das führende Lehrmittel für den Geschichtsunterricht. Es bestimmt, welche Menschen der letzten 5000 Jahre unsere Oberstufenschüler für besonders wichtig halten müssen. Im ersten Band treten 99 Männer auf – und mit der Mystikerin Hildegard von Bingen (1098–1179) eine einzige Frau. Im vierten Band über die Zeit seit 1945 stehen dann insgesamt zehn Frauen 232 Männern gegenüber.

Ist es womöglich so, dass in den vergangenen 5000 Jahren keine oder nur sehr wenige Frauen über den Erdball gewandelt sind?

Oder stimmt mit unserer Geschichtsschreibung etwas nicht?

Warum muss man erst Romanistik studieren und sich auf die französische Literatur des Spätmittelalters spezialisieren, bis man von Christine de Pizan (1365–1430) hört?

In ihrem 1405 verfassten Buch «Stadt der Damen» knöpft sich Christine de Pizan den Frauenhass vor. Sie schreibt: «Wer Frauen verleumdet, ist ein Kleingeist, dem zu viele Frauen begegnet sind, denen er sich punkto Klugheit und Vornehmheit unterlegen fühlte. Er reagiert mit Schmerz und Neid und zieht darum über alle Frauen her.»

Und was ist mit Marie de Gournay (1565–1645)? In ihrem 1622 veröffentlichten Essay «Zur Gleichheit von Männern und Frauen» hält die französische Philosophin fest: «Der Geist hat kein Geschlecht.»

Was ist mit Mary Woll­stonecraft (1759–1797), Autorin des  Buches «Die Verteidigung der Frauenrechte»? Was mit Olympe de Gouge (1748–1793) und ihrer «Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin»?

Warum erfahren die Schweizer Jugendlichen in der Schule nichts von Margarethe
Hardegger (1882–1963)? Die Berner Gewerkschafterin setzte sich fürs Frauenstimmrecht ein, für eine Mutterschaftsversicherung und für bezahlte Hausarbeit.

Im Augenblick laufen im ganzen Land die Vorbereitungen für eine Neuauflage des Frauenstreiks. Wie erfolgreich der erste Frauenstreik von 1991 war, ist umstritten. Das Gleichstellungsgesetz von 1994 jedenfalls kam vor allem darum zustande, weil Bundesrat und Parlament die Schweizer Gesetz­gebung jener der EU angleichen wollten. Auch die Einführung der Mutterschaftsversicherung im Jahr 2005 ist in erster Linie auf eine entsprechende EU-Richtlinie zurückzuführen.

Dessen ungeachtet verfolgen die Organisatorinnen des zweiten Frauenstreiks hohe Ziele. Es geht um nichts weniger als eine neue Sicht auf die Welt.

Es geht um Fragen wie: Warum sind Macht und Geld nach wie vor derart ungleich verteilt? Warum verdienen eine Kita-Angestellte und eine Kranken­pflegerin so viel weniger als ein Banker? Denn wer trägt mehr Verantwortung? Es geht darum, was in unserer Gesellschaft als wichtig angesehen wird – und wer nicht.

Die Engländerin Mary Wollstonecraft schrieb: «Es ist an der Zeit, eine Revolution in weib­licher Manier zu vollziehen – Zeit, den Frauen ihre verlorene Würde zurückzugeben.»

Sie schrieb dies im Jahr 1792.

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