Editorial zum FDP-Europaentscheid
An der Migration werden sie gemessen

Die freisinnigen Europafreunde feiern einen Erfolg. Das übergeordnete politische Thema war aber nicht an der DV sichtbar, sondern im vollen Zug dorthin.
Publiziert: 10:12 Uhr
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Reza Rafi, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Philippe Rossier
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Die FDP hat entschieden. Ja zum Vertragspaket mit der EU, ja zu Europa. Das prägende Erlebnis an diesem Samstag allerdings waren nicht die Reden des abtretenden Präsidenten Thierry Burkart, das Plädoyer von Ignazio Cassis oder die Stimmung im Saal des Wankdorf-Stadions. Etwas anderes verriet das bestimmende Debattenthema von morgen und übermorgen: die Fahrt zur Delegiertenversammlung.

Der Intercity nach Bern sollte um 9:02 Uhr vom Hauptbahnhof Zürich losfahren. Schon lange vorher braute sich auf dem Perron eine nervöse Masse zusammen. Biker mit ihren Velos, Wandervögel mit Rucksäcken und Stöcken, Jetlag-geplagte Touristen aus Übersee mit schweren Koffern, verunsicherte Seniorinnen, Familien mit schreienden Babys und Kinderwagen – alle brachten sich an Gleis 31 in Stellung. Dann kam der Zug. Die Türen öffneten sich. Der Adrenalinspiegel stieg: «Zuerst aussteigen lassen!», ruft jemand. Dann geht der Run auf die leeren Abteile los. Die Plätze füllen sich im Nu. Die Reise im überfüllten Zug konnte beginnen.

Die Bevölkerung der Schweiz wächst kontinuierlich. Letztes Jahr waren es rund 82’000 Menschen mehr, was etwa der Einwohnerzahl der Stadt Luzern entspricht. 2024 wurde die magische Grenze von neun Millionen geknackt. Denn die Wirtschaft lechzt nach Arbeitskräften, Menschen aus aller Welt werden vom hohen Lohnniveau und der Lebensqualität angelockt. Begünstigt durch die Personenfreizügigkeit, durch die Schutzklausel in den EU-Verträgen vielleicht ein wenig gebremst.

Sichtbar wird diese Entwicklung an steigenden Sozialkosten, auf dem total verrückten Immobilienmarkt, im überlasteten Verkehrsgeschehen: Kampfzone ÖV, Kampfzone Strasse, Kampfzone Schweiz. Wer dieses Unbehagen im Dauermodus bewirtschaftet, ist die SVP. Die Chancen ihrer Nachhaltigkeitsinitiative («Keine 10-Millionen-Schweiz») scheinen intakt.

Das Plädoyer der Freisinnigen für Europa ist deshalb nicht die grosse Weichenstellung, sondern ein kleiner Schritt. Die Migration ist das wirklich schicksalhafte Thema dieser Nation, die nach Jahren des Profits plötzlich damit hadert, ein Einwanderungsland zu sein. Nichts lehrt dies besser als eine Fahrt von Zürich nach Bern am Wochenende.

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