Die Szene hätte sich auch in vielen anderen Haushalten im Land abspielen können: Auf dem Küchentisch brennen farbenfrohe, von der Schwester gegossene Adventskerzen. Der Bruder entdeckt das flüssige Wachs als Modelliermasse – und spielt damit, bis sich das Ganze zu einer psychedelisch-bunten Sauerei vermischt. Die besinnliche Runde endet in Tränen und Geschrei.
Das Flackern der Kerzen ist in diesen Tagen nicht wegzudenken. In der dunkelsten Zeit des Jahres sehnen wir uns nach Licht, nach Wärme, nach Frieden. Es war eine geniale Entscheidung der frühen Christen, das Weihnachtsfest zur Zeit der Wintersonnenwende zu begehen, die sich am heutigen 21. Dezember ereignet. Der kürzeste Tag des Jahres, seit Urzeiten in vielen Kulturen gefeiert, markiert eine Umkehr zum Hellen, zum Guten, zum Hoffnungsvollen. Mit dem Anzünden einer Kerze widersetzen wir uns der Finsternis. Das Weihnachtsfest sendet damit die stärkste Botschaft der Welt: Milliarden Menschen feiern eine Geburt, ein Leben – einen Lichtblick.
Wer Menschen die Moral nehmen will, nimmt ihnen das Licht. Russland hat daraus eine Kriegstaktik gemacht – regelmässig greift seine Armee die Stromversorgung der Ukrainer an. Diese Woche traf es die Infrastruktur von Odessa. 600’000 Einwohner sassen in Kälte und Finsternis. «Russland bombt Odessa in die Dunkelheit», titelten die Tamedia-Zeitungen am Freitag.
Bald vier Jahre dauert Putins «Spezialoperation» in Europas Osten nun schon an. Da erinnert die weihnachtliche Friedensbotschaft umso mehr an den dringenden Wunsch nach einem Schweigen der Waffen. Der Kontinent ist kriegsmüde. Und ohnmächtig zugleich. Die soeben beschlossene 90-Milliarden-Hilfe der EU für das attackierte Land ist ein Hoffnungsschimmer. Dennoch bleiben wir dazu verdammt, auf die Amerikaner zu hoffen, darauf, dass Donald Trumps Sonderbeauftragter Steve Witkoff, der dieses Wochenende Wolodimir Selenskis Unterhändler in Miami empfängt, Erfolg haben wird.
Bis dahin werden die Menschen in der Ukraine, wie sie es leider zur Genüge kennen, noch viele Kerzen anzünden müssen, um ein wenig Licht zu haben. Ohne Tränen, ohne Geschrei.