Editorial über den Verzicht aufs Ständemehr im Europa-Krimi
Cassis’ Geschenk an die SVP

Mit dem Eifer eines Don Quijote will Ignazio Cassis seinen EU-Deal absichern – und hebelt Parlament wie Kantone aus. Damit könnte er seiner eigenen Partei schaden.
Publiziert: 00:02 Uhr
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Reza Rafi, Chefredaktor SonntagsBlick.
Foto: Philippe Rossier
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Die Selbstentblössung geschah unfreiwillig. Ignazio Cassis sagte der «Schweizer Illustrierten» kürzlich Folgendes: «Ich muss nicht beliebt sein, um meinen Job gut zu machen.» Was für ein edler Ausspruch, denkt der Leser, was für ein ehrenwerter Mann, der den Dienst am Land über persönliche Interessen stellt – so schön kann sich Demokratie anfühlen.

Leider zu schön, um wahr zu sein: Der Magistrat sprach diesen Satz nicht bei einer zufälligen Begegnung mit der Journalistin, nein – er liess sich bei seiner Reise nach Japan und China auf sieben Hochglanzseiten inszenieren. Mal posierte er cool mit Sonnenbrille, mal spazierte er für die Kamera gedankenvoll durch die Gassen, mal blickte er versonnen in die Ferne.

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Die PR-Offensive markiert die wundersame Verwandlung des Aussenministers in seinem achten Amtsjahr. Statt der gewohnten Larmoyanz signalisiert er plötzlich eitel Selbstvertrauen («l’EDA, c’est moi», schnöden Mitarbeiter bereits). Mit narzisstischer Wucht soll errichtet werden, was sonst nur auserlesenen Alphatieren vergönnt ist: ein bleibendes Denkmal – in Form des institutionellen Deals mit der Europäischen Union.

Cassis strebt danach, das Abkommen in trockene Tücher zu bringen, und weil er dies mit dem Eifer eines Don Quijote tut, machen sich die Kollateralschäden des magistralen Furors bereits an vielen Orten bemerkbar: So fordert der Tessiner die Legislative heraus, indem er statt der dafür zuständigen Kommissionen nur einzelnen Parlamentsmitgliedern Einsicht in die Verträge mit Brüssel gewährt. Vor allem verzichtet die Regierung bei einer Volksabstimmung auf das Ständemehr – ein Entscheid, der die Entfremdung zwischen dem Machtzentrum in Bundesbern und den Kantonen bedenklich vorantreibt.

Den grössten Schaden könnte Cassis’ eigene Partei erleiden: Die FDP steht ohnehin vor einer europapolitischen Zerreissprobe. Das nun beschlossene Hauruck-Verfahren ist ein Geschenk an die SVP, die den Verzicht auf das obligatorische Referendum schon genüsslich ausschlachtet.

Im Herbst seiner Bundesratskarriere geht Ignazio Cassis eine riskante politische Wette ein – gut, dass ihm seine Beliebtheitswerte egal sind.

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