Nach Neujahr macht Herrn und Frau Schweizer das eigene Körpergewicht besonders zu schaffen. Seit Dienstag registriert Google wieder vermehrt Anfragen zu den Stichworten «Diät» und «Übergewicht».
Manche Details sind überraschend: So interessieren sich die Schweizer Google-Nutzer heuer speziell fürs «Abnehmen mit Apfelessig». Und: Mit Abstand am meisten sorgen sich die Schaffhauserinnen und Schaffhauser um ihre Linie.
Natürlich ist es ein weiter Weg von der Neujahrsdiät zur krankhaften Fokussierung auf die Ernährung. Wobei: Die Essstörung, die meine Kollegin Rebecca Wyss in der aktuellen Ausgabe des SonntagsBlick beschreibt, heisst «Orthorexie» – und das bedeutet übersetzt schlicht «richtiger Appetit». Eine im Grunde vollkommen normale Sache also.
Aber was heisst schon normal im Zusammenhang mit Essen?
Man muss sich nur vor Augen führen, wie fixiert die Religionen auf das Thema sind. Ob Schweinefleischverbot, Koscher-Gebot oder Wein und Brot im Christentum: Nüchtern betrachtet, ist das Essen die menschliche Obsession schlechthin.
Es ist die Obs-Ess-ion.
Lebensmittel haben mit Religion zu tun, mit Identität, mit Macht. Änderungen der Essgewohnheiten haben in der Geschichte stets eine Veränderung der Herrschaftsverhältnisse angezeigt.
Das Römische Reich etwa war im Wesentlichen eine vegetarische Kultur, man ernährte sich von Weizen, Öl und Wein. Rom wurde von den Germanen erobert – mit der Folge, dass auf Europas Speisekarte für lange Zeit das Schwein den Spitzenplatz einnahm. Die Industrialisierung und den modernen Nationalstaat wiederum hätte es ohne die Kartoffel nicht gegeben. Das ebenso pflegeleichte wie nährstoffreiche Gewächs sättigte das Heer der Fabrikarbeiter in den Industriemetropolen des 19. Jahrhunderts.
Und dass Coca-Cola und McDonalds in den vergangenen Jahrzehnten zu globalen Marken avanciert sind – nun, auch diese Geschichte hat weniger mit kulinarischen Kriterien zu tun als mit der Weltmachtstellung Amerikas.
In der jüngsten Ausgabe des Wirtschaftsmagazins «Bilanz» spricht Nestlé-Chef Mark Schneider über die immer schneller wechselnden Foodtrends. Schneider will die Entwicklungszeit neuer Produkte von mehreren Jahren auf sechs bis neun Monate senken. «Das muss das neue Normal werden.»
Überhaupt kommt heutzutage niemand um diese Wörter herum: Tempo und Umbruch, Druck, Disruption und Verunsicherung. Da ist es dann auch nicht mehr weit zur Feststellung: Wir erleben einen grundlegenden Wandel der Herrschaftsverhältnisse. Bloss weiss keiner, wohin sich die Macht letztlich verschiebt.
Das alte Rom war Öl und Weizen, das Schwein steht fürs Mittelalter, die Kartoffel bildete den Treibstoff der jungen Industrieländer. Die heutige Umbruchzeit dagegen wird weniger durch ein bestimmtes Nahrungsmittel charakterisiert. Eher wohl mit einer Essstörung.
Willkommen im Zeitalter der Orthorexie.