Anders als die Schweizer haben die Kanadier gemerkt, dass etwas gewaltig schiefläuft im Land. Die kanadischen Familien zahlen ein Vermögen für Kinderbetreuung. Und zwar nicht die ärmeren Familien, sondern die Mittelschicht. Sie zahlen so viel, dass Frauen nicht mehr arbeiten können und damit die Wirtschaft der innovativen Nation bremsen. Da in Kanada wie fast überall auf der Welt Frauen unerklärlicherweise weniger verdienen als Männer, bleiben meist die Mütter zu Hause. Die liberale Ministerpräsidentin von Ontario, Kathleen Wynne, selbst dreifache Mutter, wird deshalb allen Eltern nächstes Jahr kostenlose Betreuung bieten. Sie will, dass alle Eltern guten Gewissens arbeiten gehen können. Und natürlich braucht sie Eltern und vor allem Frauen, die arbeiten. Nur so kann der Wirtschaftsstandort Ontario florieren.
Die OECD hat vorgerechnet: Wer in der Schweiz sein Kind zu 100 Prozent betreuen lässt, der blättert im Schnitt die Hälfte seines Lohnes hin. Also noch viel mehr als die Kanadier. Diese Kosten sind derart hoch, dass sie von keiner Partei ignoriert werden können.
Skandinavische Länder oder Frankreich zeigen schon lange, dass sie kostenlos Kinder betreuen können. Auch das gebärfreudige Start-up-Mekka Berlin. Kinder sind in diesen Ländern kein Luxusgut. Im Gegenteil: Frauen haben dort mehr Kinder und sind beruflich engagierter als überall sonst in Europa. Alles Hochsteuer-Länder, mögen Kritiker einwenden.
Wie erklären sie sich denn, dass neben Kanada auch Österreich oder Japan kostenlose Kinderbetreuung einführen? Auch das Bundesland Kärnten ist sich bewusst, dass ein Land ohne Kinder keine Zukunft hat. Es will zum kinderfreundlichsten Ort Europas werden. Kärnten zahlt bereits die Hälfte der Kosten, dieses Jahr will es alles übernehmen. Deutschland, Österreich, Kanada würden wie die Schweiz ohne Zuwanderung schrumpfen. Japan schrumpft bereits. Also bezahlt Japan Bürger für Kinder. Zum Beispiel die Gemeinde Nagi. Kinder ab drei Jahren werden zudem kostenlos betreut. Die Geburtenrate ist dort doppelt so hoch wie im nationalen Schnitt. Gar ein patriarchalisches Land wie Japan denkt radikal um, was Kinderbetreuung angeht – weil es dringend Frauen in der Wirtschaft braucht. Es fehlt überall an Fachkräften. Die Regierung hat eigens dafür ein Programm erdacht – Womenomics. Japan hat einen ökonomischen Notfall, der auch der Schweiz droht.
Kostenlose Kinderbetreuung: eine Rechnung, die nicht aufgehen wird? Täuschen Sie sich da mal nicht. Die Kanadier berufen sich auf die Forschung des Ökonomen Gordon Cleveland. Er beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit verschiedenen Ansätzen der Kinderbetreuung. Er rechnet vor, dass Städte Investitionen in Betreuung wieder reinholen können. Mehr arbeitende Eltern bringen mehr Steuereinnahmen und reduzieren die Sozialabgaben an Familien. Es spricht zudem vieles dafür, dass die arbeitenden Eltern das Wirtschaftswachstum ankurbeln und die Einnahmen in den Gemeinden vervielfachen.
Die frühen Kinderjahre sind zudem wichtige Bildungsjahre. Bildungssysteme erstrecken sich in immer mehr Ländern bis hin zum Babyalter. Studien zeigen, dass frühkindliche Bildung die sprachliche Entwicklung beschleunigt, aber auch die Konzentration, Lernfähigkeit verbessert. Kinder, die früh professionell gefördert werden, schliessen ihre Ausbildung eher ab, verdienen mehr und haben eher einen Job. Was sind denn Kitas anderes als Bildungsstätten? Und Bildung ist in diesem Land traditionell kostenlos.
Kostenlose Kinderbetreuung: Warum prescht da keine Schweizer Stadt vor? Gerade jene Städte, die im Schatten Zürichs stehen und nicht mit den Innerschweizer Tiefsteuer-Kantonen mithalten können? Warum nicht St. Gallen, dessen Bildungsstätten schon einen hervorragenden Ruf geniessen? Oder Bern, das kinderfreundlich ist? Kostenlose Kinderbetreuung: Das wäre in der Schweiz allemal ein Coup. Aber es würde vor allem viele gute Steuerzahler und junge Arbeitnehmer locken. Standortwettbewerb muss nicht immer einfallslos Steuerwettbewerb sein. #aufbruch
* Patrizia Laeri (40) ist Wirtschaftsredaktorin und -moderatorin von «SRF Börse» und «Eco» sowie Beirätin im Institute for Digital Business der HWZ. Sie schreibt jeden zweiten Mittwoch für BLICK.