Gianna Molinari schreibt exklusive Weihnachtsgeschichte
Ailin

Die Baslerin Gianna Molinari (30) veröffentlicht mit «Hier ist noch alles möglich» das Roman-Debüt des Jahres, das sowohl für den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis nominiert war. Für uns schrieb die Autorin eine Kurzgeschichte zum Fest.
Publiziert: 24.12.2018 um 22:07 Uhr
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Aktualisiert: 07.06.2019 um 16:46 Uhr

Ich schaue Grossmutter an. Grossmutter schaut aus dem Fenster.

«Was siehst du?», frage ich.

«Eine Wolke», sagt sie. «Es ist eine hübsche Wolke. Sehr klein, sehr weiss.»

Sie wischt mit ihrem Ärmel über die angehauchte Stelle auf dem Fensterglas, kommt zu mir an den Tisch und setzt sich neben mich. Sie streicht sich mit der rechten Hand über die ­linke und dann mit der linken über die rechte Hand. Ich horche auf. Wenn sich Grossmutter so über die Hände streicht, dann dauert es nicht lange, und sie beginnt zu erzählen.

Grossmutter kennt viele Geschichten. Sie kennt so viele Geschichten, dass ich mich frage, wo sie alle Platz haben in ihr.

Sie räuspert sich. Sie sucht meinen Blick, und erst als sie sich sicher ist, dass ich auch wirklich aufmerksam zuhöre, beginnt sie: «Im Dorf, in dem ich aufwuchs, gab es früher eine Mauer», sagt sie. «Die Mauer war so gross und hoch, dass niemand aus dem Dorf je einen Blick auf die andere Seite werfen konnte. Bei dieser Mauer lebte eine Frau. Ailin war ihr Name.

Ailin erzählte den ganzen Tag lang, was für Wunder hinter der Mauer liegen würden. Das Dorf konnte die Geschichten nicht mehr hören. Immer etwas anderes sollte sich angeblich hinter der Mauer befinden.

Einmal war es ein Goldklumpen, ein anderes Mal ein schöner Jüngling, ein Garten mit seltensten Pflanzen und Tieren, ein Pferd, das Meer, ein - Nicht schon wieder, sagten die Leute aus dem Dorf. Wir haben deine Geschichten satt. Wir können ja sowieso nie auf die andere Seite. Lass uns mit deinen Geschichten in Frieden. Ailin aber erzählte weiter. Tag für Tag. Geschichte für Geschichte.

Eines Tages, als sie gerade dem Bäcker eine neue Geschichte erzählte, entdeckte sie zwischen ihren Zehen eine kleine Feder. Sie zupfte daran und schrie auf.

In den kommenden Tagen wuchsen ihr immer neue und immer mehr Federn an derselben Stelle. Sie zupfte und zupfte. Aber es half nichts. Und nicht nur zwischen den Zehen, am ganzen Körper wuchs ihr ein Gefieder. Die Leute aus dem Dorf lachten sie aus. Sagten: Ailin Huhn. Gackerten, wenn sie bei der Mauer und an ihr vorübergingen.

Eines schönen Morgens aber war Ailin plötzlich verschwunden. An der Stelle bei der Mauer, wo sie für gewöhnlich sass, lagen vereinzelte Federn. Von Ailin aber fehlte jede Spur.

Einige Leute aus dem Dorf erzählten, dass man an diesem Tag einen Punkt am Himmel gesehen habe. Einen kleinen. Viele seien der Meinung gewesen, dass dort am Himmel Ailin zu sehen sei. Andere aber sagten: Ihr habt zu ­viele Geschichten gehört, das ist eine Wolke, eine ganz gewöhnliche, kleine weisse Wolke.»

Später stehen wir beide am Fenster und suchen den Himmel nach einer Wolke ab.

«Sie ist weg», sagt Grossmutter.
«Sie kommt bestimmt wieder», sage ich.
«Bestimmt», sagt sie und streicht mir über die Wange. 

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