Am liebsten sitzt er auf dem Schoss – und jedes verdächtige Geräusch erschreckt ihn: «Odin ist wie ein Welpe im Körper eines ausgewachsenen Hundes», sagt Susy Utzinger (52) über ihren neuen Schützling, einen schwarzen Schäferhund. Die Tierschützerin nimmt es mit Humor: «Momentan gehe ich mit nassen Haaren ist Büro, beim Lärm vom Haarföhn dreht Odin durch. Staubsaugen geht auch nicht, aber es gibt Schlimmeres.»
Anfangs musste sie die Küchentür schliessen, um in Ruhe kochen und essen zu können: «Sobald Odin was Essbares sieht, springt er drauf», sagt Utzinger. Das sei aber nicht erstaunlich. «Schliesslich ist er fast verhungert.»
An Eisenkette festgebunden
An einen Baum gekettet und komplett abgemagert, so hat ein Spaziergänger den Schäferhund diesen Sommer in einem Wald in Ungarn gefunden und brachte ihn in ein Tierheim, mit dem Utzinger mit ihrer Stiftung zusammenarbeitet. Eine Agentin hat ihr ein Foto des ausgesetzten Hundes geschickt. Der Anblick hat sie direkt ins Herz getroffen. Sie habe in ihrem Beruf viel Tierleid gesehen: «Aber an so was gewöhne ich mich nie. Odin war an einer Eisenkette festgebunden und hatte keine Chance, sich zu befreien.»
Ein Tier nur aus Mitleid adoptieren sollte man aber keinesfalls. In den sozialen Medien werden Hunde angeboten, die angeblich auf Müllhalden gefunden wurden und schwere Schicksale haben. «Vor allem bei Welpen ist Vorsicht geboten», so Lucia Oeschger vom Schweizer Tierschutz STS. «Es gibt mittlerweile Betrüger, die sogar solche Hunde züchten und bei Interessenten auf die Tränendrüse drücken.» So werden unter dem Deckmantel des Tierschutzes Hunde in die Schweiz vermittelt, und man unterstützt damit im schlimmsten Fall auch noch skrupellose Hundehändler.
Hundehändler haben leichtes Spiel
Die haben seit der Pandemie noch leichteres Spiel, viele wünschen sich gerade jetzt einen treuen Vierbeiner als Freund. Seit dem ersten Lockdown im März 2020 wurden fast 30'000 Hunde mehr registriert, total leben 544'000 Hunde in der Schweiz. Weil es hierzulande nicht genug Hunde gibt, wird über die Hälfte importiert, auch aus Tierschutzprojekten.
Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, solange man die Organisationen genau überprüfe. Susy Utzinger: «Viele sind sich nicht bewusst, was mit so einem Hund auf sie zukommt.» Das sind zunächst Formalitäten und Tierarztkosten, Odin war unterernährt und voller Parasiten. Und dann sind da noch die emotionalen Wunden. «Solche Hunde sind traumatisiert, das braucht nicht nur viel Liebe, sondern auch Geduld und Erfahrung.» Darum muss so ein Schritt wohlüberlegt sein. «Sonst landen viele dieser Hunde später hier im Tierheim», sagt Utzinger.
Tierschutz vor Ort
Mit ihrer Stiftung SUST importiert sie darum auch keine Tiere in die Schweiz: «Wir packen das Problem an der Wurzel und sorgen vor Ort für eine Verbesserung der Situation.» In den fünf Tierwaisen-Hospitälern im Ausland wurden dieses Jahr 4698 kranke und verletzte heimatlose Tiere kostenlos behandelt und über 18'500 Hunde und Katzen kastriert.
Für Odin ist Susy Utzinger im Oktober nach Ungarn gereist: «Für eine Adoption muss man grundsätzlich selber vor Ort sein.» Auch um sicher zu sein, dass der Hund zu einem passt. Als Utzinger den Zwinger öffnete, gab es kein Zurück: «Ich spürte sofort, Odin gehört zu mir.» Damals war er nur Haut und Knochen: «Er war so dünn, dass ich mich kaum getraut habe, ihn zu streicheln.» Wegen der Unterernährung hat sich das Fell teils rötlich verfärbt. Inzwischen hat Odin fünf Kilo zugelegt: «Nicht nur Fett, auch Muskeln, denn er darf sich endlich bewegen», so Utzinger.
Konsequente und liebevolle Erziehung
Für Odin ist alles neu: An der Leine gehen oder Treppen, da stürchelt er im Übermut ab und zu runter. Und anfangs wollte der Schäferhund seine neue Besitzerin vor jedem, der sich nähert, beschützen. «Bis er gemerkt hat, dass er von meinen Kolleginnen im Büro ein Leckerli bekommt», lacht Utzinger. «Jetzt muss ich aufpassen, dass er nicht hochspringt.» Selbstverständlich geht Odin in die Hundeschule, er habe eine traurige Vergangenheit: «Vor lauter Mitgefühl darf man aber die Erziehung nicht vernachlässigen», so die erfahrene Hündelerin. «Konsequent, aber liebevoll», das sei auch im Interesse des Hundes und dem Umfeld.
Eine grosse Hilfe sind die beiden anderen Hunde von Utzinger: «Zorga ist der Chef, der kleine Noroc die graue Eminenz.» Von den beiden lerne der jüngste im Bunde viel. Inzwischen kann Utzinger wieder am Wohnzimmertisch essen, und sie muss auch keine Angst mehr haben, dass er in der Wohnung markiert. «Bei einem Rüden ist das eine ziemliche Sauerei. Böse bin ich ihm deshalb nicht, er hat es einfach nie gelernt.»
Odin darf aufs Sofa
Und ja, Odin darf mit aufs Sofa, er brauche viel Körperkontakt: «Er muss alles nachholen. Und mir tut diese Nähe auch gut.» Susy Utzinger hat von anderthalb Jahren ihren Mann an Krebs verloren. Ein Verlust, der noch immer schmerzt: «Ich vermisse Lars sehr, über die Feiertage besonders.» Ein Ersatz für den geliebten Menschen seien ihre Hunde nicht: «Aber sie geben mir so viel Liebe und bringen mich auf andere Gedanken. Beste Freunde, das sind sie auf jeden Fall.»