«Wenn ich schreibe, kann ich aus mir raus und tun, was immer ich will», sagt Johanna Maria Ott (38). Die Autorin sitzt in ihrem Atelier in Zürich – im Rollstuhl, denn Ott ist körperlich komplex behindert, kann nicht gehen und nur erschwert sprechen. Gerade hat der Wörterseh Verlag ihr erstes Buch herausgebracht: «Schreiben ist wie Fliegen». Es zeigt, wie Ott sagt: «Man kann physisch unfrei sein und dafür im Geist umso mehr frei sein, das kommt auf die Lebenseinstellung an.»
Dass man ein Buch mit den Händen schreiben müsse, ist einer von vielen Irrglauben. Ott hat es mittels eines Computerprogramms geschrieben, das sie mit ihren Augen steuern kann. Das Werk ist eine Sammlung sinnlicher Gedichte über Sehnsucht und Tod, frecher Kurzgeschichten und literarischer Statements. Texte von ihr wurden bereits mehrfach ausgezeichnet.
Durch das Schreiben konnte sie sich der Welt mitteilen
Als Mädchen war das Schreiben für Ott eine Möglichkeit, sich der Welt mitzuteilen. «Meine ersten Texte waren noch typisch ‹verliebter Teenager›», sagt sie und lacht. Nur mit ihrem Kopf kann sie gezielte Bewegungen ausführen. Lange schrieb sie deshalb mit einem Stab, der an einem Helm auf ihrem Kopf befestigt war. Mit diesem tippte sie auf einer speziellen Computertastatur – Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort. Für einen Satz brauchte sie anfangs eine Stunde.
Wegen eines Sauerstoffmangels bei der Geburt hat sie keine Kontrolle über die Bewegungen ihrer Arme und Beine. Auch ihr Mund will oft nicht so, wie sie will. Die allermeisten Handgriffe in ihrem Alltag übernimmt deshalb ein Team aus sieben Pflegekräften, die sie in fast jeder Minute des Tages betreuen, ihr zu essen und trinken geben, sie schminken oder das, was sie sagt, «dolmetschen».
Jeden Arbeitstag sitzt Ott im Arbeitsatelier gleich unter ihrer Wohnung im Kulturpark Zürich und feilt an ihren Texten. Darin geht es immer wieder um ihre Behinderung und wie sie damit umgeht. Und darum, wovon die Autorin träumt, über was sie urteilt, wie sie sich verliebt oder Dinge mit Humor nimmt.
Sie führt ein selbstbestimmtes Leben
Ott ist durch ihre Behinderung eingeschränkt. Trotzdem kann sie vieles tun, das andere auch können – und noch mehr. Mit elf Jahren schrieb sie ihr erstes Gedicht. In Begleitung einer Assistenz besuchte sie eine «normale» Schule, gründete ein Schreiblabor, zog mit 18 Jahren in eine eigene Wohnung. Ihr selbstbestimmtes Leben und das Anstellen von Pflegekräften sind nur dank des Vereins «Leben wie du und ich», den sie mitgegründet hat, sowie Spendengeldern möglich.
Denn die von der IV bezahlten Betreuungsstunden reichen für viele Betroffene nicht aus. «Und das, obwohl ein Leben im Heim mindestens genauso teuer wäre und die Lebensqualität geringer», so Ott über ihr Leben im Assistenzmodell. Sie hofft deshalb auf mehr staatliche Unterstützung. Damit mehr behinderte Menschen so leben können wie sie.
Schweiz hinkt 30 Jahre hinterher
Dass die Autorin trotz Behinderung von Anfang an in die Gesellschaft eingebunden war, sieht sie heute als Grund, weshalb sie ihre Leidenschaft fürs Schreiben entfalten konnte. «Mir wurde von meinem Umfeld immer vorgelebt, dass ich ein fast normales Leben führen und mich immer weiterentwickeln kann», sagt Ott.
Das ist eher die Ausnahme. Im Vergleich zu anderen Ländern hinke die Schweiz 30 Jahre hinterher, wenn es um den Umgang mit behinderten Menschen geht. Als Mädchen hat Ott eine Zeit lang in Kanada gelebt, weil ihre Mutter dort in einem Film mitwirkte. Eine Kassiererin habe immer gefragt: «Hey, wie geht es dir?» Das sei ihr vorher noch nie passiert. Sie sagt: «Meistens sprechen die Leute nur mit der Person, die meinen Rollstuhl schiebt.»
Mit dem Buch «Schreiben ist wie Fliegen» will sie etwas dagegen tun. Es soll Berührungsängste abbauen. «Ich will zeigen, dass mein Schicksal keine Tragödie ist», sagt Ott. «Mein Körper ist behindert, doch mein Herz und meine Seele sind es nicht.»