Blick: Herr Safranski, «Einzeln sein» heisst Ihr neues Buch. Ist es das Ergebnis des Lockdowns während der Corona-Krise, als alle alleine zu Hause sassen?
Rüdiger Safranski: Das Buch hatte ich schon zuvor geplant, auch schon vorher damit begonnen. Aber in der Zeit von Corona merkte ich, wie aktuell das Thema ist. Und weil während dieser Zeit alle Veranstaltungen abgesagt waren, fand ich Ruhe und Konzentration, um daran arbeiten zu können.
Einzeln sein hat einen positiven und einen negativen Aspekt: Einerseits geht es um Selbstverwirklichung, andererseits um Einsamkeit. Was steht für Sie im Vordergrund?
Es geht um einzeln sein. Und das ist ein grosser Unterschied zu einsam sein, obwohl aus dem Einzelnsein auch Einsamkeit erwachsen kann. Ich erzähle Geschichten von Figuren, die einzeln sein konnten und gerade deshalb nicht einsam waren.
Sie erzählen von Luther, Rousseau und Jean-Paul Sartre – von über einem Dutzend erfolgreichen Einzelpersonen der Neuzeit.
Ja, deswegen reden wir über sie – eine Vielfalt ambivalenter Einzelfiguren. Wenn es ein Einzelner nicht schaffte, dann können wir nicht über ihn reden. Ich veröffentliche kein Ratgeberbuch, aber die einzelnen Personen sollen Lust machen, einzeln zu sein.
Aktuell beschwören Corona-Skeptiker einen Kampf des Individuums gegen die Gesellschaft. Müssten Sie angesichts dieser Tatsache nicht eher Lust aufs Miteinander machen?
Zum Teil gibt es dort massive Verschwörungstheoretiker – das würde ich unter Realitätsverlust verbuchen. Das ist manchmal so irrsinnig, da merkt man: Die Leute haben die Bodenhaftung verloren.
Ich höre ein Aber.
Ich möchte auch sagen, es ist ganz gut, wenn man Statistiken hinterfragt und sich klarmacht, dass Wissenschaftler nicht mit einer Stimme reden. Das tut die Wissenschaft nie, wenn sie seriös ist – da gibt es immer Spielräume. Eine gesunde Skepsis ist immer notwendig.
Allerdings auch gesunder Menschenverstand.
Genau, und der sagt mir: Impfen ist momentan die wirksamste Strategie. Wissend darum, dass der Impfstoff noch ganz neu ist, plädiere ich für den gesunden Menschenverstand und für Solidarität. Einzeln sein heisst ja nicht, unsolidarisch zu sein.
Sondern?
Einzeln sein heisst einfach, aus seiner Individualität heraus solidarisch sein zu können. Wir sind ein besseres Wir, wenn die Leute auch einzeln sein können. Und ein gutes Wir bringen wir nur zustande, wenn die Einzelnen in sich stark sind.
Gibt es da je ein Gleichgewicht?
Man kann sich in einer Gesellschaft immer fragen, ob der Wir-Pol oder der Einzel-Pol stärker ist – da verschiebt sich stets etwas. Unsere westliche Gesellschaft pflegt eine Kultur des Individualismus. Das macht uns stark und gehört zur Demokratie. Aber innerhalb dieser generellen Betonung des Individualismus gab es immer wieder massive Rückschläge.
Zum Beispiel?
In Deutschland propagierten die Nazis den Slogan: «Du bist nichts. Dein Volk ist alles.» Und der Kommunismus trieb die geistige Kollektivierung ganz massiv voran. Danach neigte sich das Gewicht wieder mehr auf die individuelle Seite.
Und heute?
Durch die digitale Kommunikation findet eine intensive Art von Vergesellschaftung statt – da neigt sich das Gewicht wieder verstärkt zum Wir-Pol.
Andererseits gibt es in der digitalen Welt Influencer, die durch ihre Individualität hervorstechen wollen.
Die Digitalisierung bietet auch Chancen, damit der Einzelne etwas mit sich machen kann. Sie ermöglicht jedem, seinen eigenen Auftritt zu gestalten. Doch es gehört auch dazu, anerkannt zu werden, aber in seiner Einzelheit. Heute spricht man immer von Gruppenzugehörigkeit, von Identitätspolitik. Nein, ich möchte individuell anerkannt werden.
Und dafür lechzt man nach Likes
Doch man darf nicht süchtig nach Anerkennung sein! Wenn man alles nur macht, um anerkannt zu werden, dann ist etwas faul. Natürlich kann man die digitale Welt so nutzen, dass sie die individuellen Kräfte stärkt. Aber da muss man sehr, sehr aktiv sein und nicht nur passiv Medien nutzen.
Einzeln zu sein, ist mit viel Arbeit verbunden, wie Sie im Buch an einigen Beispielen aufzeigen. Lohnt sich der Aufwand?
Wir müssen da schon benennen, was mit Arbeit gemeint ist: Es ist ein Tätigsein, eine Aktivität, die verhindert, dass wir in ein Loch fallen. Die Lebenskräfte werden nur durch Aktivität aktiviert.
Und das macht uns erst zum Menschen.
Ja, ein schönes Beispiel ist Henry David Thoreau: Der zieht sich in die Wälder zurück und will testen, wie es sich anfühlt, wenn man ganz auf sich selbst gestellt ist. Dabei war sein Heimatort nur ein paar Kilometer entfernt. Trotzdem baute er die Hütte selber – er wollte sich selbst erfahren, aber nicht indem er bloss auf der Wiese lag und in den Himmel guckte.
Thoreau zog sich in die Wälder zurück, Luther gründete eine Religionsgemeinschaft. Wie erreicht man ein gesundes Mass an Individualität – weder Eigenbrötler noch Selbstaufgabe?
Da gibt es kein Rezept. Aber es gibt eine Regel: Man muss den Mut haben abzuweichen. Konsens ist nicht alles. Schulterschluss ist nicht alles. Man muss Lust haben auf das andere, man muss sich auch von sich selbst überraschen lassen.
Führt dieser Egotrip nicht in die Irre? Heute will jeder ein Star sein.
Natürlich, wir haben einen Starkult, worin der Einzelne eine grosse Rolle spielt.
Und der Starkult zerstört heute Mannschaftssportarten wie Fussball: Ein Messi ist wichtiger als der Klub, für den er spielt.
Das ist alles nicht so neu: Im Römischen Reich waren die Gladiatoren unheimlich gut bezahlt – ganz Rom sprach über sie. Sie waren genauso tätowiert wie die heutigen Stars, aber sie hatten ein grösseres Risiko: Sie setzten im Gegensatz zu Messi und Co. ihr Leben aufs Spiel.
Schon die alten Griechen ehrten das Individuum, doch bei den alten Ägyptern galt der Einzelne wenig – denken wir an den Menschenverschleiss beim Pyramidenbau. Ist ein solches Gesellschaftsmodell wieder denkbar?
Ich hoffe nicht. Aber wir müssen eines sehen: So wie ich das Buch schrieb und so wie wir jetzt darüber sprechen, machen wir das alles auf dem Boden einer Individualkultur. Und wir haben die grosse Supermacht China, die ein ganz anderes Modell hat.
In China galt und gilt der Einzelne wenig, in den USA dagegen viel: Geht es im Handelskrieg zwischen diesen beiden Grossmächten letztlich darum, welche Sichtweise obsiegt?
Aus grossem historischen Abstand werden wir das vermutlich einmal so sagen müssen. Wenn man mittendrin im Handgemenge ist, spielen Handelsinteressen eine grosse Rolle. Und da werde auch ich demnächst eine Erkenntnis gewinnen.
Inwiefern?
Ziemlich viele meiner zahlreichen Bücher sind ins Chinesische übersetzt worden. Und nun bin ich wirklich gespannt, ob dieses Buch, «Einzeln sein», auch ins Chinesische übersetzt wird. Ich habe meine Zweifel.
Mal ganz unvoreingenommen betrachtet: Ist ein Modell philosophisch gesehen überlegen?
Die westliche individualistische Demokratie war dem real existierenden Sozialismus überlegen. Deswegen brach 1989 der Ostblock zusammen. Das Modell China – das hätte man früher gar nicht für möglich gehalten – ist eine Hybridform: Die Verknüpfung der kapitalistischen Dynamik mit einem autoritären System. Diese kollektivistische Kultur hat momentan eine bärenstarke Wirkung. Aber der Westen muss nicht die Waffen strecken, sondern sich auf seine Stärken besinnen.
Die wären?
Wirtschaft, Technologie und Demokratie. Aber gerade in der Pandemie kamen Zweifel auf, ob wir so wirksam sein können wie die Chinesen. Wenn man ganze Millionenstädte abriegeln kann, dann hat man zunächst grosse Erfolge. Bloss fragt sich, ob es sich lohnt, in einem solchen System zu leben.
Sie waren in Ihrer Jugend Mitbegründer einer maoistischen Sekte, die sich KPD-AO (Aufbauorganisation) nannte. Erkennen Sie noch etwas Kommunistisches innerhalb der chinesischen Gesellschaft?
Vom Maoismus sind in China die ungeheuer starke Staatsmacht geblieben und ihre Durchgriffsmöglichkeiten auf den Einzelnen. Als ich damals Maoist war, dachten wir, dass Mao in der Kulturrevolution die Jugend gegen den eigenen Parteiapparat mobilisieren würde – gewissermassen als oberster Antiautoritärer. Das war alles vollkommen anders, wie sich dann herausstellte. Aber so sah der naive Maoismus der frühen 1970er aus. Mit dem wirklichen China hatte das schon damals wenig zu tun.
Das Gefühl der Ich-Bezogenheit, wie Sie es beschreiben, kommt nach der griechischen Antike in der Renaissance wieder auf. Warum erst dann?
Die griechischen Stadtstaaten förderten auf beschränktem Raum eine Individualkultur. Dann kam Alexander der Grosse, dann die grosse Reichsbildung – und im Mittelalter wuchs die Bedeutung der Religion, des Christentums. Vor Luther war das Christentum eine Stammesreligion. Sie bezog sich auf kollektive rituelle Akte.
Und nach Luther?
Er wollte einen persönlichen Gott, den man für sich erfahren konnte. Das war so revolutionär, dass die ganze Kirche zusammenbrach. Da merkte man: Herrgott, das Individuum kann mit seiner Kraft unglaublich viel zustande bringen. Um das 16. Jahrhundert herum war man auf einem neuen geistigen Kontinent. Wir bewundern heute noch die Kunst der Renaissance. Das alles setzt ein selbstbewusstes Individuum voraus.
Aber das Individuum kann auch zerstören: In der Renaissance sagte der Philosoph Blaise Pascal, alles Unglück rühre daher, dass Menschen nicht alleine ruhig im Zimmer bleiben können. Zu Recht eine häufig zitierte Maxime in Corona-Zeiten?
Pascal, der das so schön sagte, versuchte in Paris mit Kutschen eine Art Taxiunternehmen aufzuziehen. Das klappte dann nicht. Das zeigt, wie widersprüchlich das Leben ist.
Doch Pascal zeigt: Das Ziel von einzeln sein ist nicht immer, einzigartig hervorzustechen, sondern auch in sich zu versinken.
Ja, es gehört dazu, es bei sich gut auszuhalten. Es gibt in Berlin den schönen Spruch: «Mensch, geh in dir! War ik schon, ist och nichts los.» Man darf nicht von sich selbst gelangweilt sein.
Sie halten dennoch wenig von Pascals Spruch.
Es predigt sich so leicht, dass man alleine zu Hause bleiben soll. Wir wollen raus und etwas von der Welt erfahren. Und dann fallen wir auf die Nase und entdecken, dass es zu Hause auch ganz schön ist – es läuft immer in dieser Abfolge. Ich bin einfach dagegen, dass man ein ultimatives Dogma in die Welt setzt.
Also nehmen, wie es kommt?
Ich bin immer wieder überrascht, wie flexibel wir sind. Nicht wie Luther: «Hier stehe ich, ich kann nicht anders!», sondern: «Hier stehe ich, ich kann auch anders!» Wir lernten während der Pandemie, dass man mit Abstand ganz gut zurechtkommt – man kann auch so sozial sein.
Rüdiger Safranski, «Einzeln sein – eine philosophische Herausforderung», Hanser Verlag
Da seine Eltern berufsbedingt häufig abwesend sind, wächst der am 1. Januar 1945 in Rottweil (D) geborene Rüdiger Safranski unter dem Einfluss seiner pietistischen Grossmutter auf. Deswegen will er zunächst Theologie studieren, entscheidet sich dann aber für ein Philosophiestudium (auch bei Theodor W. Adorno) an den Universitäten Frankfurt und Berlin. Seit 1987 ist er freier Schriftsteller und Verfasser zahlreicher Monografien zu Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Nietzsche. Von 2002 bis 2012 moderiert er zusammen mit Peter Sloterdijk das «Philosophische Quartett» im ZDF, von 2012 bis 2014 ist er Mitglied des «Literaturclub» im Schweizer Fernsehen. Safranski ist Träger zahlreicher Preise, unter anderen des Verdienstkreuzes 1. Klasse. Heute lebt er mit seiner Frau in Badenweiler (D).
Da seine Eltern berufsbedingt häufig abwesend sind, wächst der am 1. Januar 1945 in Rottweil (D) geborene Rüdiger Safranski unter dem Einfluss seiner pietistischen Grossmutter auf. Deswegen will er zunächst Theologie studieren, entscheidet sich dann aber für ein Philosophiestudium (auch bei Theodor W. Adorno) an den Universitäten Frankfurt und Berlin. Seit 1987 ist er freier Schriftsteller und Verfasser zahlreicher Monografien zu Friedrich Schiller, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Nietzsche. Von 2002 bis 2012 moderiert er zusammen mit Peter Sloterdijk das «Philosophische Quartett» im ZDF, von 2012 bis 2014 ist er Mitglied des «Literaturclub» im Schweizer Fernsehen. Safranski ist Träger zahlreicher Preise, unter anderen des Verdienstkreuzes 1. Klasse. Heute lebt er mit seiner Frau in Badenweiler (D).