Darum gehts
- Pilgerreise von der Haustür nach Rom: Weg wichtiger als Ankommen
- Via Francigena bietet authentische Erfahrungen und tiefgründige Begegnungen mit Mitpilgern
- 1000 Kilometer in 45 Tagen, durchschnittlich 25 Kilometer pro Tag
Rom empfängt mich nicht mit Dolce Vita, sondern mit Abgasen, grauen Wohnblöcken und Asphalt. Sechzehn Kilometer lang marschiere ich durch trostlose Vorstädte – und bin doch glücklich. Nach 45 Tagen und mehr als 1000 Kilometern in den Beinen bin ich bis obenhin gefüllt mit innerer Ruhe. Ungeheizte Herbergen, schnarchende Mitpilger, Regenschauer, denen selbst die Regenjacke nicht mehr standhält: Pilgern macht erstaunlich gelassen.
Deshalb zieht es mich seit Jahren immer wieder auf verschiedene Jakobswege. Wenn ich spüre, dass meine innere Mir-doch-egal-Gelassenheit bröckelt und mich Kleinigkeiten nerven, hole ich Rucksack und Wanderschuhe aus dem Schrank und stapfe los. Und je länger ich unterwegs bin, desto stärker wird dieses Gefühl der Ausgeglichenheit. Für das Pilgern gilt dann eben doch der abgenutzte Satz, dass der Weg wichtiger wird als das Ankommen.
Von der Haustür ins Abenteuer
Für dieses Mal sollte es ein besonderer Weg sein: Start an der eigenen Haustür, Ziel Rom – das älteste christliche Pilgerziel Europas. Und doch ist es ein seltsames Gefühl, noch schnell den Müll hinunterzubringen und dann zu einer 1000-Kilometer-Wanderung aufzubrechen. Einerseits aufregend, andererseits beinahe langweilig: Zu vertraut sind mir das Appenzellerland und das Rheintal, denen ich auf alten Saumpfaden Richtung Splügen folge. Doch als ich mich anschicke, den 2114 Meter hohen Splügenpass zu erklimmen, über den seit jeher Händler, Pilger, Könige und Glückssucher zogen, ist es da – das Gefühl, mitten in einem Abenteuer zu stecken. Wow!
Vom Splügenpass schlängelt sich mein Weg hinab nach Chiavenna, am Comer See vorbei und ab der Stadt Lecco entlang des Flusses Adda südwärts, bis ich kurz vor Piacenza auf die Via Francigena einbiege, den mittelalterlichen Pilgerweg zum Vatikan.
Der Lärm des Lebens wird leiser
Mein Körper gewöhnt sich schnell an die tägliche Anstrengung von durchschnittlich 25 Kilometern. Nach einer Woche, vielleicht zehn Tagen, spüre ich zudem eine Veränderung in meinem Seelenleben: Die Geräusche des Alltags werden leiser. Karriere- und Geldsorgen, das Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen, verblassen allmählich. An ihre Stelle tritt eine ruhige See aus Vertrauen und Glück, auf der mein Leben ohne Turbulenzen dahingleitet. Der Grund? Das einfache, strukturierte Leben auf dem Pilgerweg: Aufstehen, Laufen, Essen, Waschen, Schlafen. Durch die tägliche Wiederholung verliert das Leben seine Komplexität, und die Geräusche des Alltags verstummen.
Ich bin nicht katholisch und glaube weder daran, dass beim Gebet vor den Reliquien des heiligen Petrus im Vatikan Wunder geschehen, noch daran, dass man sich auf einem Pilgerweg «selbst findet». Es ist diese Seelenruhe, die mich immer wieder hinauszieht.
Die Via Francigena – ein Geheimtipp
Mit diesem Bedürfnis bin ich nicht allein. Anfang Oktober sind erstaunlich viele Pilger auf der Via Francigena unterwegs. Fast alle berichten, sie seien bereits mehrfach auf Jakobswegen gepilgert und suchten nun eine ruhigere Alternative. Denn auf dem Camino in Spanien herrscht inzwischen Jahrmarktstimmung. Mit rund 525'000 Pilgern stellt der Jakobsweg in diesem Jahr einen neuen Rekord auf – mit all den bekannten Nebenwirkungen des Overtourism.
Die Via Francigena ist dagegen noch ein Geheimtipp. Die offizielle Organisation stellte im Jahr 2024 lediglich 14'000 Pilgerpässe aus. Rechnet man Outdoor-Fans hinzu, die nur Teilstrecken gehen, kommt man nach Schätzungen auf kaum mehr als 50'000 Menschen im Jahr – etwa so viele wie auf dem Jakobsweg vor 20, 30 Jahren. Und ebenso authentisch geht es hier noch zu.
Man übernachtet in Klöstern, Pfarrheimen, Gemeindehäusern oder bei Privatpersonen, die ein Zimmer zur Verfügung stellen und ihre Gäste wie italienische Nonnas umsorgen. Das Besondere: Eine verblüffend grosse Zahl der Pilgerherbergen bietet ein Bett im Sinn der christlichen Nächstenliebe auf Spendenbasis an. Manchmal gibt es sogar ein einfaches, gemeinsames Abendessen: Pasta, eine Schüssel Salat, Brot, ein Glas Rotwein. Man sitzt zusammen, und schnell werden die Gespräche tiefgründig. Es geht um Hoffnungen und Ängste, um Schicksalsschläge und Glücksmomente. Und immer wieder um spirituelle Erlebnisse. Denn auf dem Weg erlebt man viel Wundersames, das sich nicht so einfach mit Logik oder Zufall erklären lässt.
Weil die Francigena eher erfahrene Fernwanderer anzieht, treffe ich Menschen mit Ecken und Kanten. Arnold, den Schauspieler, der abends Verse rezitiert. Vincent, der seit neun Jahren ohne Unterbrechung wandert. Miguel, der ganz ohne Geld unterwegs ist. Chantal, die ständig singt und tanzt. Im «richtigen Leben» hätten wir wohl wenig miteinander zu tun. Auf dem Weg aber verschwinden die sozialen und kulturellen Unterschiede, die uns sonst trennen. Menschen begegnen Menschen.
Verliebt in Italien
So vergeht Tag um Tag. Je weiter ich nach Süden komme und je tiefer ich in Italien eintauche, desto mehr verliebe ich mich in dieses Land, dessen Schönheit manchmal fast unwirklich scheint: der Mix aus Olivenhainen, Weinbergen, Zypressenalleen, gesprenkelt mit Bauernhöfen wie aus einer Filmkulisse, dazu Städte wie Lucca, San Gimignano oder Siena und die langen Abende mit den neuen Pilgerfreunden in der Trattoria. All das macht etwas mit der Seele.
Deshalb können mich die unschönen Momente, so wie der Einmarsch nach Rom, nicht mehr aus dem Gleichgewicht bringen. Und als ich nach 45 Tagen schliesslich auf dem Petersplatz stehe, mischt sich in die Freude ein leiser Stich von Wehmut. Eigentlich möchte ich weiterlaufen. Denn der Weg ist das Ziel.
Informationen
Die Via Francigena startet in Canterbury in England und ist etwa 2000 Kilometer lang. Viele Pilger starten in Lausanne (1100 km, 50 Tage) oder Martigny VS, weil sie den Pass über den Grossen St. Bernhard (2469 m ü. M.) erleben möchten. Der schönste Abschnitt beginnt in Lucca (410 km, 20 Tage) und führt durch die Regionen Toskana und Latium.
Beschilderung: Die Strecke ist sehr gut beschildert. Das Symbol ist ein mittelalterlicher Pilger.
Unterkünfte: Ab der Schweiz ist das Netz an Pilgerherbergen sehr gut ausgebaut. Zusätzlich finden sich viele unterschiedliche Unterkünfte von Privatzimmern bis zu luxuriösen Boutiquehotels.
Der Pilgerpass: Für die Pilgerherbergen benötigt man einen Pilgerpass, mit dem man in Rom zudem das Testimonium erhält. Den offiziellen Pilgerpass gibt es gegen einen kleinen Obolus bei der europäischen Via-Francigena-Assoziation: viefrancigene.org
Kosten: Wer in Herbergen schläft (durchschnittlich 20 Euro pro Bett), kommt täglich mit 40 bis 50 Euro zurecht. Ein privates Doppelzimmer in einem kleinen Hotel (Einzelzimmer sind selten) gibt es ab 60 Euro.
Christian Bauer betreibt zudem eine Infoseite zum Jakobsweg.