Darum gehts
- Beliebte deutsche Sehenswürdigkeiten enttäuschen oft durch Übertourismus und Kommerzialisierung
- Neuschwanstein, Checkpoint Charlie und Loreley sind überlaufene touristische Attraktionen
- An der Nordsee, im Schwarzwald und in Bayern gibt es viel mehr zu sehen und erleben als auf Sylt, am Titisee und am Oktoberfest
Neuschwanstein, Bayern – das Märchenschloss, das keines ist
Gewusst? Neuschwanstein ist ein Fake! Es gaukelt den Besuchern vor, ein Märchenschloss aus dem Mittelalter zu sein, wurde aber erst im 19. Jahrhundert gebaut. Bauherr war der verrückte Bayernkönig Ludwig II., der hier in einer mittelalterlichen Parallelwelt leben wollte. Der Ort am Fusse der Alpen im Südwesten Bayerns ist freilich perfekt gewählt – kein Wunder, dass hier jährlich etwa 1,4 Millionen Menschen durchgeschleust werden – das sind im Schnitt über 4000 pro Tag.
Die Realität? Ein Besuch gleicht einem logistischen Grossmanöver: Tickets müssen oft Wochen im Voraus gebucht werden, spontane Besichtigungen sind kaum möglich. Wer Glück hat, ergattert einen 30-Minuten-Slot für eine geführte Tour durch eine Handvoll Zimmer, die nicht einmal beeindruckend sind. Denn der Prachtbau blieb bei Ludwigs Tod 1886 unvollendet. Als Abbild von Grössenwahn ist Schloss Neuschwanstein ohne Frage interessant – aber nicht mit diesen Menschenmassen, die jede Freude zunichtemachen.
Alternative: Zugegeben, so manche Burg, die heute nach Mittelalter aussieht, wurde im 19. Jahrhundert errichtet – manche davon, im Gegensatz zu Neuschwanstein, auf den Ruinen historischer Anlagen. So auch das Schloss Lichtenstein bei Reutlingen in Baden-Württemberg. Von Massentourismus gibt es bei diesem Märchenschloss keine Spur.
Checkpoint Charlie, Berlin – Geschichte in Plastik gegossen
Der Checkpoint Charlie in Berlin war bis zur Wiedervereinigung einer der bekanntesten Grenzübergänge zwischen der BRD und der DDR – ein Symbol für den Kalten Krieg und die Idiotie der Abschottung. Man würde meinen, ein solcher Ort wäre heute eine respektvolle Erinnerungsstätte. Weit gefehlt: Der Checkpoint Charlie ist ein Nachbau à la Disneyland, inklusive Schauspielern in amerikanischen Uniformen. Das originale Wachhaus existiert nicht mehr, es wurde nach der Wende abgerissen. Das heutige Häuschen ist ein Nachbau der Baracke aus den 60er-Jahren. Auch die ikonischen Schilder «You are leaving the American sector» sind Kopien. Also: nicht hingehen!
Alternative: Das Dokumentationszentrum Berliner Mauer an der Bernauer Strasse ist Teil der Gedenkstätte Berliner Mauer – kostenfrei zugänglich und historisch fundiert. Entlang eines 1,4 Kilometer langen Mauerstreifens zeigt die Freiluftausstellung Originalreste der Grenzanlagen, inklusive Wachturm und Todesstreifen.
Loreley, Rheintal – mehr Beton als Ballade
Jeder deutsche Schüler konnte einst die Zeilen auswendig:
«Ich weiss nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.»
So beginnt das Gedicht «Lied der Loreley» von Heinrich Heine (1797–1856) aus dem Jahr 1824. Es ist die Grundlage des heutigen Ruhms des langweiligen Felsens im Mittelrheintal. Eine schöne Frau, so besagt die Legende, sitze auf dem Felsen und verwirre die Schiffer mit ihrem Gesang, die hier ihre Kähne auf Grund setzten – heute singen hier Rockbands auf der Loreley-Freilichtbühne. Über 400'000 Menschen kommen jährlich und hoffen, die verführerische Schönheit zu sehen. Zu Gesicht bekommen sie nur Absperrung und Asphalt. Ein trauriger Ort.
Alternative: Das obere Mittelrheintal zwischen Koblenz und Bingen zählt zu den schönsten Flusslandschaften Europas – und wurde wegen seiner kulturellen Bedeutung zum Unesco-Welterbe erhoben. Im Tal mit seinen hohen Wänden reiht sich eine Burg an die nächste. Am schönsten erlebt man die Strecke bei einer Bootsfahrt oder im Zug – etwa von Frankfurt nach Koblenz.
Sylt – die Insel der Eitlen und Enttäuschten
Sylt – ein Mix aus Saint-Tropez, Mykonos und Ibiza: ein Tummelplatz für die Schönen und Reichen. Und Deutschlands teuerste Insel – im doppelten Sinn. Für die Anreise mit dem Autozug ab Niebüll zahlt man in der Hauptsaison bis zu 130 Euro retour für einen PW mit zwei Personen. Und Ferienwohnungen, Cocktails und Restaurantbesuche übersteigen in den Sommermonaten sogar Schweizer Preise. Zwischen Edelboutiquen, Porsche-Zurschaustellung und Protzgehabe sucht man authentisches Nordsee-Flair vergebens. Schade – denn eigentlich wäre Sylt landschaftlich eine sehr schöne Insel. Zum Glück gibt es an der deutschen Nordsee genügend Alternativen.
Alternative: Südlich von Sylt liegen beispielsweise die beiden ruhigen Inseln Amrum und Föhr. Hier gehts viel entspannter, ruhiger und authentischer zu und her. Föhr promotet sich übrigens als «friesische Karibik» – das allein ist schon ein Grund, mal vorbeizufahren.
Titisee – Schwarzwald im Kioskformat
Wenn es um Sehenswürdigkeiten in Deutschland geht, habe ich zwei Dinge noch nie wirklich verstanden:
- Was finden die Leute eigentlich am Schwarzwald so toll?
- Warum schwärmen alle vom Titisee?
Ersterer ist mir zu düster (daher der Name) – und der Titisee ist in keiner Weise spektakulär: ein bisschen Wasser zwischen bewaldeten Hügeln. Zudem regieren, angestachelt vom internationalen Tourismus, Kommerz und Kitsch. Lust auf eine billige Kuckucksuhr oder einen roten Bollenhut, der gar nicht aus dieser Region stammt? Wer einen Blick auf den See erhaschen will, muss sich zwischen Tretbootverleih, Imbissbude und Reisegruppen hindurchschieben. Die Uferzone ist verbaut, die Bundesstrasse führt in Hörweite vorbei.
Alternative: Natürlich hat der Schwarzwald – auch wenn er nicht meine deutsche Lieblingsregion ist – einige schöne Orte zu bieten. Lust auf einen See? Der Feldsee beim Feldberg (mit 1492 Metern der höchste Berg der Region) liegt versteckt im Wald und ist nur zu Fuss erreichbar. Keine Souvenirshops weit und breit.
Zugspitze – wo das Gipfelglück verloren geht
Deutschlands höchster Berg ist heute ein durchorganisiertes Tourismusprodukt – aber das kennt man aus der Schweiz ja auch. Die neue Seilbahn bringt bis zu 580 Besucher pro Stunde auf fast 3000 Meter. Oben herrschen verglaste Tristesse, Gastronomie mit Kantinenflair – und Gedränge. Auf dem Wanderweg zum Gipfelkreuz tummeln sich Menschen ohne jegliche Bergerfahrung. Klar, der Blick bis hinüber in die Schweiz ist atemberaubend – dennoch war ich von der Zugspitze bei meinen zwei Besuchen jeweils enttäuscht.
Alternative: Der kleine Zipfel der Alpen, der in Deutschland liegt, hat ohne Frage sehr schöne Fleckchen zu bieten. Einer davon ist die Jenneralm bei Berchtesgaden, wo man zu schönen Wanderungen aufbrechen und den Blick auf den malerischen Königssee geniessen kann.
Oktoberfest – wenn das Fest zur Marke wird
6 Millionen Gäste, 17 Grosszelte, 90'000 Sitzplätze – und Bierpreise jenseits von Gut und Böse: Die Wiesn ist eine Massenpsychose, bei der die Besucher allenthalben Erziehung und Kontrolle verlieren. Vielleicht übertreibe ich ein wenig. Vielleicht auch deshalb, weil ich die bayerische Gemütlichkeit wirklich mag: im Biergarten sitzen, herzhaft geniessen und «den lieben Gott einen guten Mann sein lassen», wie es hier heisst. Der (Sauf-)Gigantismus des Oktoberfests ist das genaue Gegenteil – und von den Möchtegern-Bayern in Billigtrachten habe ich noch gar nicht angefangen.
Alternative: In Bayern gibt es im Sommer und Herbst Bier- und Weinfeste en masse. Kein Dorf, das nicht etwas zu feiern und zu begiessen hätte – mit noch wirklich gelebtem Brauchtum.