Was sofort auffällt: Sein fragender Blick. Und später, kaum kehrt uns der spanische Regisseur Calixto Bieito (53) den Rücken und unterhält sich mit einer Sängerin auf der Bühne: Der mächtige Stiernacken unter der polierten Glatze, die breiten Schultern, kräftigen Oberarme. Erklärt er der Künstlerin, dass sie in ihrer Rolle einen Fahrrad-Fetischismus ausleben und sich deshalb an einem Velo selbst befriedigen soll? Bringt er ihr bei, dass eine Nacktszene etwas völlig Normales sei?
Erstaunlich: Die Probe im Zürcher Opernhaus zu Sergej Prokofjew «Der feurige Engel», der am letzten Sonntag Premiere hatte, läuft so unaufgeregt ab, als handle es sich um ein Picknick – und nicht um eine der «Blood and Sperm»-Inszenierungen, für die Bieito weltberühmt, weltberüchtigt ist.
Herr Bieito, Sie leben in Basel ...
Calixto Bieito: … und fühle mich dort sehr gut. Für meine Arbeit brauche ich Ruhe und Frieden. Nur so kann man Dinge erfinden und Fantasien entwickeln. Wenn ich denke, dass ich erst seit fast 20 Jahren in Basel arbeite, dann war ich ziemlich lange ziemlich blöd. Ich hätte sofort dorthin ziehen sollen!
Wenn Sie zurückblicken: Wo beginnt Ihre Affäre mit dem Theater?
Auf der Jesuitenschule. Wie Sie vielleicht wissen, hat dieser Orden die Religion in Amerika über das Theater verbreitet. Es gab in dieser Schule also einen grossen Theatersaal. Darin habe ich als Kind im Chor gesungen.
Seine Inszenierungen sind Einzelstücke. Sie kennen keine Vorläufer und bleiben, trotz vieler Kopien, Unikate: Der Spanier Calixto Bieito (53) erzählt seine Geschichten im Musiktheater mit tiefenpsychologischem, handfest sexualisiertem Ansatz. Die Skandale, die sich daraus ergeben, äussern sich in Buhkonzerten und einer stetig wachsenden Fangemeinde, die ihm von Berlin über Paris bis nach London und Zürich folgt. Bieito wohnt mit seiner Familie in Basel und inszeniert auch dort. An der Zürcher Oper arbeitet er zum zweiten Mal.
Seine Inszenierungen sind Einzelstücke. Sie kennen keine Vorläufer und bleiben, trotz vieler Kopien, Unikate: Der Spanier Calixto Bieito (53) erzählt seine Geschichten im Musiktheater mit tiefenpsychologischem, handfest sexualisiertem Ansatz. Die Skandale, die sich daraus ergeben, äussern sich in Buhkonzerten und einer stetig wachsenden Fangemeinde, die ihm von Berlin über Paris bis nach London und Zürich folgt. Bieito wohnt mit seiner Familie in Basel und inszeniert auch dort. An der Zürcher Oper arbeitet er zum zweiten Mal.
Kaum in der Schule, schon waren Sie in der Oper?
Es war religiöse Musik. Die Oper? Da muss ich wohl so um die 17 Jahre alt gewesen sein. Eine Schallplattenaufnahme von Puccinis «Tosca» – die hat mich mitten ins Herz getroffen. Seither gibt es in mir diese Hingabe, eine Anhänglichkeit an diese Kunstform. Stärker als alles andere! Irgendwie muss ich sogar sagen: Sie hat mir das Leben gerettet!
Sonst wären Sie jetzt Priester?
Auf keinen Fall. Ich bin auf dieser Welt gegen nichts – aber glauben kann ich nicht.
Sie sind Atheist?
Es wechselt. Manchmal Atheist, dann wieder Agnostiker. In all meinen Zweifeln hat mich das Theater kein einziges Mal losgelassen, nicht ein einziges Mal enttäuscht. Ich muss hinzufügen. Ich wurde dabei ziemlich obsessiv. Es scheint, dass ich verzweifelt versucht habe, irgendetwas in den Griff zu kriegen.
Jeder braucht ein Ziel.
Ich denke, die wahre Heimat jedes Menschen ist seine Kindheit. Das Leben ist ein Fluss, und dessen Quelle findet man in der Kindheit.
Jetzt wohnen Sie am Rhein ...
Genau. Ich sitze oft an seinem Ufer und schaue dem Wasser zu. Als ich eines Tages mit meinen Kindern in unserer Wohnung am Fenster stand und auf den Fluss, die Brücken schaute, wusste ich: Die Brücke meiner Kindheit in Miranda de Ebro sieht genau so aus.
Wie alt sind Ihre beiden Söhne?
16 und 12 Jahre.
Das interessanteste und das wildeste Alter.
Wir haben viel Spass.
Nicht auch Probleme?
Nicht im Moment.
Waren Sie ein schwieriges Kind?
Ich war schwierig mit mir, weil ich mich selbst viel zu sehr bestraft habe.
Das verstehe ich nicht.
Ich rannte, rannte und rannte die ganze Zeit. Ich wollte allein sein, brauchte Distanz.
Wenn ich Ihnen zusehe: Sie gehen mit den Sängern überhaupt nicht distanziert, sondern geradezu intim um.
Nun ja. Mein Metier braucht Kraft und eine Menge gegenseitiger Verschworenheit. Sie tun für mich Dinge, die sie für andere Regisseure nicht tun würden.
Sie sind bekannt für provokante Szenen. Ist es nicht gefährlich, wenn man solche Macht besitzt?
Ich würde das Vertrauen meiner Sänger niemals missbrauchen. Ich weiss, was das heisst. Ich selbst wurde als Kind missbraucht. Nein. So etwas könnte ich nie.
Verstehe ich Sie richtig, Sie wurden missbraucht?!
Einer der Priester begann mich zu küssen, streichelte meine Oberschenkel und ... Irgendwie konnte ich mich lösen und rannte weg.
Was dann?
Er hat es nie mehr versucht. Irgendwann habe ich es vergessen – und irgendwann kam es zurück.
Je älter wir werden, desto mehr erinnern wir uns an vergessene Dinge unserer Kindheit.
Ich war wie eine Katze. Extrem konzentriert. Immer auf der Lauer. Immer bereit, ins Wasser zu springen. Und bin doch auf Katzenhaare allergisch!
Man sagt, Sie seien in Ihren Anforderungen an die Sänger exzessiv. Sogar grenzwertig. Dass Sie ein «Blut und Titten»-Regisseur sind. Ich bin aber in Ihren Inszenierungen einem Visionär begegnet.
Meine Aufgabe ist es, in einer Inszenierung einen gestalterischen Bogen aufzubauen. Daran und damit arbeite ich die ganze Zeit.
Was, wenn das nicht gelingt?
Dann ist man von sich selbst enttäuscht. Und reisst sich danach zusammen. Man weiss: Es gibt diesen Bogen. Wenn man ihn findet, fliegt man darauf in eine Art Glück.
Sie aber rennen immer weiter.
Was will ich denn machen? Wenn ich unbekannte Menschen treffe, erwarten die immer ein schreckliches, brutales Tier. Aber die Menschen, mit denen ich arbeite, schenken mir ihr ganzes Vertrauen.
Weil sie Ihnen vertrauen?
Man muss immer ein Stück von sich weggeben, um ein Stück von den anderen zu bekommen. Es geht nicht anders. Meine Arbeit ist mein Leben. Und meine Familie. Dafür lebe ich.
In Zürich inszenieren Sie nun eine Oper von Prokofjew, die kaum je aufgeführt wird: 100-jährige Musik, die kaum einer kennt. Das Stück um eine Frau, die einen feurigen Engel sieht. Die Geschichte einer religiösen Hysterikerin.
Es ist für mich die Geschichte einer Frau und eines Mannes von heute. Der Mann ist in einer Krise und sieht in dieser Frau «das Licht». Doch sie weist ihn zurück. Sie ist sanft zu ihm und sagt trotzdem Nein. Sie schläft mit jedem, nur nicht mit ihm. Es ist ein Bild der neurotischen Gesellschaft von heute.
Das Bühnenbild erinnert teils an Bilder des US-Malers Edward Hopper. Die Menschen sind allesamt einsam.
Es ist die Einsamkeit im Kopf der Protagonistin und in den Köpfen der Gesellschaft. Das Stück hat mich in meine Jugend, in die 1970er-Jahre, zurückkatapultiert. Hinein in die Gesellschaft unter der brutalen Franco-Diktatur. Parallelen zur Stalin-Zeit, in der Prokofjew lebte, sind klar.
Ihre Erinnerungen daran sind der Schlüssel zu dieser Inszenierung?
Es gab in unserer Stadt ein ausnehmend hübsches Mädchen. Alle redeten über sie. Die einen sagten, sie sei eine Hure. Andere meinten, sie sei verrückt. Wieder andere erzählten, dass sie mit jedem gratis vögele. Selbst die Kinder sagten solche Sachen. Und damals gab es meinen Freund Taco, mit dem ich oft zusammen Fahrrad fuhr. Eines Tages fiel er vom Rad und stiess sich heftig den Kopf an. Er starb in der gleichen Nacht. Seine Mutter begann durch die Strassen zu gehen. Man sagte, sie sei wahnsinnig geworden. Das sind die Bilder, die am Anfang meiner Inszenierung standen.
In der Oper gibt es jede Menge Männer. Sie sind wie Tiere, die sich nehmen, was sie bekommen können. Ich frage Sie: Sind Sie Feminist?
Ich gehöre keiner Bewegung an. Aber, wie soll ich mich ausdrücken? Ich kann mich stark mit Weiblichkeit identifizieren. Ich kann nachempfinden, weil meine Grossmütter unter ihren gewalttätigen Männern litten. Ich war vielleicht 35 Jahre alt, als mich eine der beiden zu sich rief und mir alles erzählte. Grauenvoll. Und doch sagte sie mir im gleichen Moment: «Also dramatisch war das nicht!»
Was dachten Sie?
Ich habe danach eine ganze Menge Dinge verstanden. Über das Leben meiner Mutter. Und über meines.
In Ihrer Inszenierung gibt es Dinge, die ich nicht sonderlich mag, aber akzeptieren kann. Was aber, wenn Sie am Premierenabend ausgebuht werden?
Ich mag es nicht, daran gewöhnt man sich nicht. Aber ich habe es zu akzeptieren. Es ist das Recht des Publikums, sich so zu äussern, wenn es nicht bekommt, was es erwartet hatte. Was solls? Ich umarme die Darsteller. Die nehmen am nächsten Morgen das Flugzeug und sind weg. Ich fahre dann nach Basel, setze mich an den Fluss und schaue dem Wasser zu. Wenn ich etwas weiss, dann: Denke nie, dass du wichtig bist.
Sie rennen weg?
Ja. Das ist mein Schlachtplan.
«Der feurige Engel» im Opernhaus Zürich Premiere: www.opernhaus.ch.