Darum gehts
Blick: Melanie Fotak, wann gilt ein Baby als Schreibaby?
Melanie Fotak: Die Definition lautet: Wenn ein Baby über mehr als drei Wochen mindestens dreimal wöchentlich mehr als drei Stunden schreit. Tatsächlich schreien Schreibabys aber meist viel länger und das auch nicht nur dreimal pro Woche, sondern täglich.
Ist bekannt, weshalb ein Baby zum Schreibaby wird und ein anderes nicht?
Nein, die Ursache ist nicht bekannt. Leider hält sich der Spruch «entspannte Eltern haben entspannte Kinder» seit langer Zeit hartnäckig. Das ist jedoch völliger Blödsinn. Auch die entspanntesten Eltern können ein Schreibaby haben. Ausserdem gibt es viele Familien, in denen ein Kind ein Schreibaby war und das andere nicht.
Sie beraten beim Telefondienst «Mami4Mami» des Vereins Schreibabyhilfe Eltern von Schreibabys. Was beschäftigt sie besonders?
In dem Moment, in dem sie zum Hörer greifen, fühlen sie sich in der Regel extrem allein und überfordert. Ein Schreibaby zu haben ist für viele ein Tabuthema. Einige trauen sich nicht mal, die eigenen Eltern oder den Partner anzurufen – deshalb wenden sie sich an uns.
Weshalb dieses Tabu?
Weil viele das Schreien des Babys als Zeichen dafür interpretieren, dass sie eine schlechte Mutter oder ein schlechter Vater sind. Zudem denken sie Dinge wie: Ich wollte doch ein Kind, ich sollte überglücklich sein und nun belastet mich mein Baby. Oder: Als Mutter oder Vater sollte ich in der Lage sein, mein Kind zu beruhigen. Viele denken, sie versagen. Besonders schlimm ist es, wenn das Umfeld kein Verständnis zeigt.
Was erleben betroffene Eltern?
Die ältere Generation rät oft, das Kind einfach schreien zu lassen – das sei nicht so schlimm. Solche Aussagen sind wenig hilfreich. Manchmal geben sogar Fremde der Mutter zu verstehen, sie habe ihr Baby nicht im Griff. Das ist niederschmetternd und kann dazu führen, dass sich die Eltern isolieren. Sie trauen sich schlicht nicht mehr, mit ihrem Baby rauszugehen, und verzweifeln in den eigenen vier Wänden.
Sie sind selbst Mutter eines Schreibabys und liessen sich von «Mami4Mami» beraten.
Ja, auch ich habe auf die Hotline angerufen. Sandra – heute eine Kollegin von mir – hat lange zugehört und mir Tipps gegeben. Zudem erzählte sie mir vom Whatsapp-Chat von «Schreibabyhilfe», in den Eltern reinschreiben dürfen, wie sie sich fühlen und sich mit anderen austauschen können. Auch das empfand ich als sehr bereichernd. Ich habe aber generell alles Mögliche ausprobiert, als unser Livio seine Schreiphase hatte.
Zum Beispiel?
Ich habe auch den Elternnotruf gewählt, was ebenfalls eine gute Erfahrung war. Aber ich habe gemerkt, dass es mir nicht reicht, bloss in Notfällen solche Stellen anzurufen. Deshalb zog ich auch ärztliche Hilfe bei. Zudem habe ich mit meinem Sohn diverse Therapien ausprobiert wie Osteopathie, Kraniosakral- und Bioresonanztherapie. Bei uns haben sie jedoch nicht geholfen.
Livio ist heute sechs Jahre alt und hat die Schreiphase überwunden.
Die schwere Baby-Zeit vergisst man nie. Einmal geriet ich so sehr an meine Grenze, dass ich Livio in den Maxi-Cosi packte und einer Verwandten abgab. Das war sehr hart, aber ich hatte Angst um Livio und um mich. Plötzlich war der Gedanke da, dass mein Sohn womöglich ruhig wird, wenn ich ihn schüttle. Man darf das kaum laut aussprechen. Wer kein Schreibaby hatte, kann sich nicht vorstellen, wie sehr man an seine Grenzen gerät – und dass dann solche Gedanken naheliegen.
Wie sollte man in diesen Momenten reagieren?
Das Kind sicher hinlegen und aus dem Zimmer gehen. Dann sollte man jemanden anrufen. Hat man keine Vertrauensperson, kann das auch die Notrufnummer 144 sein. Denen sagt man dann: «Mein Baby und ich sind in Gefahr, ich brauche Hilfe.»
Haben Sie weitere Tipps für Eltern in Notfallsituationen?
Es mag banal klingen, aber: einen Pamir tragen. So hört man das Schreien zwar noch, aber es ist nicht mehr so ohrenbetäubend. Zudem rate ich, bereits vor dem Notfall eine Liste mit Kontakten anzulegen, die man ungeniert anrufen kann. Am besten sucht man sich drei, vier enge Vertraute aus und fragt sie, ob man sich im Notfall melden dürfte. Dann hängt man die Liste mit den Telefonnummern an den Kühlschrank, sodass man in der Not nicht mehr viel überlegen muss.
Wie kann das Umfeld Familien mit Schreibabys unterstützen?
Es kann seine Hilfe anbieten, aber die betroffenen Mütter und Väter müssen auch lernen, um Hilfe zu bitten. Sinnvoll könnte etwa sein, wenn Freunde oder Verwandte einkaufen gehen, mit dem Baby einen Spaziergang machen oder mit älteren Geschwisterkindern einen Ausflug unternehmen. Oft sind es Kleinigkeiten, die Betroffene stark entlasten.