Darum gehts
Als Selina Z. (44) mit ihrem Sohn Finn (14) nach dessen bestandener Theorieprüfung zum Zürcher Strassenverkehrsamt geht, um seinen Mofa-Lernfahrausweis zu beantragen, fällt sie aus allen Wolken. Dafür brauche es die Unterschrift des anderen Elternteils. Das Problem: Selina hat keine Ahnung, wo Finns Vater ist. Irgendwo im Ausland, hat er gesagt, als er kurz nach der Trennung gegangen ist, «um Zeit zum Nachdenken zu haben».
Selina und Thomas (51) waren nie verheiratet, haben aber das gemeinsame Sorgerecht für ihren Sohn, wie das seit dem 1. Juli 2014 Usus ist. Da Finn bei ihr lebt, sei sie davon ausgegangen, sie würde auch für ihn entscheiden können. «Das stimmt nur teilweise», sagt Cornelia Döbeli, Juristin und Beraterin beim «Beobachter». Denn: Obhut und Sorgerecht ist nicht das Gleiche. Trotz alleiniger Obhut eines Elternteils – also auch wenn das Kind mehrheitlich bei einem Elternteil lebt und der andere es nur wenig sieht – muss der andere Elternteil bei gewissen Dingen mitentscheiden. Cornelia Döbeli: «Alltägliche Entscheidungen wie Ernährung, Hausaufgaben, Bettzeit und so weiter entscheidet der Elternteil, bei dem das Kind gerade ist. Nichtalltägliche, weitreichende Entscheide können bei gemeinsamem Sorgerecht hingegen nur gemeinsam getroffen werden.» Was bedeutet das konkret für Selina?
Fall 1: Selina möchte mit Finn ins Nachbardorf ziehen
Thomas ist nach ein paar Wochen zurück aus dem Ausland und hat sich am Wohnort der Familie eine Wohnung genommen. Da er sehr beschäftigt ist und nicht viel Platz hat, sieht er seinen Sohn höchstens am Wochenende. Selina kann sich die grosse Familien-Wohnung nicht mehr leisten und sucht etwas Kleineres, findet allerdings nur im Nachbardorf eine Bleibe und zieht mit Finn um. «Sie muss den Vater natürlich darüber informieren», so Cornelia Döbeli. Aber grundsätzlich wäre ein solcher Umzug wohl auch ohne sein explizites Einverständnis erlaubt. Dieses braucht es bei einem Umzug innerhalb der Schweiz nur, wenn dieser den Kontakt zum anderen Elternteil erheblich beeinträchtigt und erschwert. Bei einem Umzug des Kindes ins Ausland jedoch braucht es zwingend das Einverständnis des anderen Elternteils.
Fall 2: Finn bricht sich beim Handball die Schulter, Selina geht mit ihm zum Notfall, er wird sofort operiert
Medizinische Entscheide müssen an sich gemeinsam gefällt werden. Das gilt aber nicht für Notfälle. «Das Gesetz sagt explizit, dass ein Elternteil trotz gemeinsamem Sorgerecht alleine entscheiden kann, wenn die Angelegenheit dringlich ist oder der andere Elternteil nicht mit vernünftigem Aufwand zu erreichen ist», so Cornelia Döbeli. Sie fügt jedoch an: «Im Fallbeispiel kann, respektive muss Finn selber der OP zustimmen. Denn mit 14 Jahren ist er als urteilsfähig anzusehen und entscheidet daher selber in höchstpersönlichen Angelegenheiten wie einer Schulter-OP - ausser natürlich, er wäre bewusstlos.» Ein spezifisches Alter für die Urteilsfähigkeit gibt es nicht, es kommt jeweils aufs Kind an, die Faustregel ist bei ungefähr 12 Jahren.
Fall 3: Selina möchte Finn gegen HPV impfen lassen
Da diese Impfung nun auch für Buben in Finns Alter empfohlen wird, findet Selina, ihr Sohn sollte den Piks erhalten. Grundsätzlich ein klarer Fall, so die Expertin: «Bei Impfungen müssen beide Elternteile einverstanden sein.» Auch hier gilt das aber nur, wenn das Kind noch klein ist. Ist es urteilsfähig, kann und muss es selber entscheiden. Für Auffrischimpfungen muss auch bei kleinen Kindern kein erneutes Einverständnis eingeholt werden.
Fall 4: Finn möchte sich beim Coiffeur die Haare abrasieren lassen, Selina ist einverstanden
Sein Vater findets furchtbar, kann es aber nicht verhindern. «Bei kleinen Kindern gehört das Haareschneiden aus meiner Sicht zu den alltäglichen Entscheidungen, die der betreuende Elternteil alleine treffen darf», so Cornelia Döbeli. Eltern müssen bei ihren Entscheidungen allerdings altersentsprechend die Wünsche und Meinung ihres Kindes berücksichtigen.
Fall 5: Mit dem Umzug steht ein Schulwechsel an. Zur Auswahl stehen zwei Schulen, Selina entscheidet sich für die, welche ihr sympathischer ist
Auch dies ein klarer Fall: «Für alles, was die Ausbildung betrifft, braucht es das Einverständnis von beiden Elternteilen», so die Expertin. Bei der Schulwahl hat Thomas also auch ein Wörtchen mitzureden.
Fall 6: Finn möchte aus der Kirche austreten, Selina unterstützt ihn
Auch über die religiöse Erziehung ihres Kindes müssen Eltern mit gemeinsamem Sorgerecht zusammen entscheiden. Allerdings nur, bis Finn 16 ist. Danach entscheidet er selbständig über seine Religion.
Fall 7: Die Sache mit der Töffliprüfung
Und was ist nun mit dieser Mofaprüfung? «Da ist die Rechtslage unklar und Gerichtsentscheide sind mir keine bekannt», meint Cornelia Döbeli. «Bei einem anderen Strassenverkehrsamt wäre es vielleicht kein Problem gewesen, in Zürich handhabt man das offenbar so.» Thomas hat Selina sein Einverständnis übrigens einige Tage später per WhatsApp zukommen lassen.
Und was, wenn die Eltern sich bei den Entscheidungen nicht einig werden? Grundsätzlich gibt es keine Streitschlichtungssstelle. Ist allerdings das Kindeswohl gefährdet, kann die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Kesb beispielsweise einem Elternteil das Recht einräumen, alleine zu entscheiden. Oder die Behörde kann gleich selbst entscheiden.