Foto: Nathalie Taiana

Im ÖV mit einer Autistin
«Ich spüre die bösen Blicke»

Menschen mit unsichtbaren Behinderungen hoffen auf mehr Rücksicht, seitdem die SBB ihnen ein Erkennungsband zur Verfügung stellen. Autistin Joëlle Dreifuss fuhr mit uns Zug. Und erzählte aus ihrem Leben.
Publiziert: 16.08.2025 um 20:05 Uhr
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Darum gehts

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Jonas DreyfusService-Team

Sie geht zielstrebig geradeaus an diesem heissen Sommertag am Bahnhof Altstetten in Zürich. Wer Joëlle Dreifuss (43) in die Quere kommt, muss ausweichen. Das liegt nicht zuletzt an Labrador Rocky, siebeneinhalb Jahre alt.

Er bahnt seiner Halterin den Weg und scheint dabei genauso wenig nach rechts und links zu blicken wie sie. Sein blaues Geschirr mit weisser Aufschrift weist ihn als Assistenzhund aus.

Dreifuss trägt Jeans, dazu ein weisses T-Shirt und ein dunkelblaues Hemd mit skizzierten Sonnenmotiven.

Ein Sonnenblumen-Bändel als Signal

Das passt zum «Sunflower Lanyard» – Sonnenblumen-Bändel –, der um ihren Hals hängt. Die SBB geben das grüne Band mit den kleinen Sonnenblumen seit Juni in den Grossräumen Zürich und Genf gratis ab. Daran hängt eine Plastikkarte.

Die Idee dahinter stammt aus England. Der Bändel soll Passagiere und Personal im öffentlichen Verkehr darauf hinweisen, dass die Trägerin oder der Träger an einer unsichtbaren Behinderung leidet und vielleicht etwas mehr Zeit und Verständnis benötigt als andere.

Im Stress vergisst sie, sich vor dem Duschen auszuziehen

Bis jetzt kennen den Sunflower Lanyard erst wenige. Menschen wie Joëlle Dreifuss hoffen, dass sich das ändert. Sie ist Autistin. Wir begleiten sie während einer Fahrt mit der S-Bahn.

«Ich habe einen anstrengenden Morgen hinter mir», sagt sie und setzt sich in ein leeres Viererabteil. Die Hundeschule sei kurzfristig ausgefallen. Solche Planänderungen sind für Dreifuss herausfordernd. «Ich kann mich nicht spontan mit etwas anderem beschäftigen.» Es fühle sich an, als müsse man plötzlich eine Schulklasse beschäftigen, deren Lehrer nicht auftaucht.

Jeder Tag bei ihr ist durchgeplant. Im Badezimmer in ihrer Wohnung in Oberengstringen ZH hängt ein laminiertes Blatt mit dem genauen Ablauf fürs Duschen. Sie brauche die Anleitung, wenn sie gestresst sei. «Sonst kann es passieren, dass ich vergesse, vor dem Duschen die Kleider auszuziehen.»

Während der Fotosession vor dem Bahnhof Zürich-Altstetten mussten Joëlle Dreifuss, ihr Hund Rocky und die Fotografin mehrere Male einem Lastwagen Platz machen, der Waren anlieferte. Eine Stresssituation für alle – und vor allem für Dreifuss.
Foto: Nathalie Taiana

Sie wirkt wie jemand, der einen guten sarkastischen Witz erzählen kann. Gleichzeitig liegt etwas Zerbrechliches in ihrem Wesen. Und dann dieser flüchtige Schatten, der ab und zu über ihr Gesicht huscht – als werde ihr bewusst, dass leben für sie auch durchbeissen heisst.

Dreifuss leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) mit geringem Unterstützungsbedarf, was manchmal noch als Asperger-Syndrom bezeichnet wird – der Begriff gilt in der Medizin als veraltet. Eine ASS ist eine angeborene und unheilbare neurologische Entwicklungsstörung.

Sie äussert sich bei Dreifuss unter anderem in Reizempfindlichkeit und der Angst vor Berührungen. Beim Einsteigen in die S-Bahn kam uns eine Gruppe Schulkinder entgegen – laut, lebhaft, chaotisch.

Wer nicht mit Autismus lebt, nimmt ein solches Geräuschchaos vielleicht als unangenehm wahr, kann es aber meist ausblenden. Dreifuss hat diesen Filter nicht. «Ich habe gehört, worüber die Schüler gesprochen haben – die bevorstehenden Ferien.»

Don't touch Rocky!

Rocky positioniert sich in Menschenmengen so, dass niemand seiner Halterin zu nahe kommt. Im ÖV führt er sie zu freien Sitzplätzen – möglichst mit Abstand zu anderen Passagieren. Es sei oft nett gemeint, sagt Dreifuss. «Aber wer Rocky streichelt, attackiert meinen Schutzschild.»

Ihren eigenen Raum zu haben, ist für sie essenziell. Berührungen – selbst flüchtige eines Rucksacks – spüre sie noch sehr lange nachhallen, sagt Dreifuss. «Das ist wahnsinnig unangenehm, weil es sich wie etwas Fremdes anfühlt, das an mir haftet.»

Blickkontakt, der keiner ist

Als unangenehm empfinden viele Autistinnen und Autisten es auch, anderen direkt in die Augen zu schauen. Das gilt auch für Joëlle Dreifuss, die sich das aber nicht anmerken lässt. Sie imitiert Blickkontakt, indem sie einen Punkt hinter dem Gegenüber fixiert. «Masking» nennt man das: eine Art Maskierung, mit der Betroffene versuchen, nicht anzuecken oder zu irritieren.

Manchmal bittet sie andere Passagiere, für sie aufzustehen, wenn sie auf Plätzen sitzen, die für ältere oder behinderte Menschen reserviert sind. Dann heisse es manchmal: «Sie sind noch jung, Sie können stehen.»

Joëlle Dreifuss trägt den Sunflower Lanyard um den Hals. Lanyard heisst Schlüsselband. Auf der Karte steht «Hidden Disabilities» – unsichtbare Behinderungen.
Foto: Nathalie Taiana

Anspruch darauf erhebe sie keinen, sagt Dreifuss. «Aber es wäre wunderbar, wenn Menschen besser verstehen würden, wie es uns Autistinnen und Autisten geht.»

Die Schweizer seien immer im Schuss. Wer ein bisschen länger brauche, um bei einer Kontrolle das Billett hervorzuholen, werde schnell böse angeschaut. «Selbst ich, die mit Blickkontakt nichts anfangen kann, spüre das.»

Gerade deshalb sei der Sunflower Lanyard so wichtig: Der Bändel sorge für Sichtbarkeit und bringe unsichtbare Behinderungen ins Gespräch. «Je mehr die Menschen darüber wissen, desto mehr Verständnis werden sie aufbringen.»

Dieser Wunsch steht manchmal im Widerspruch zu den Dingen, die Dreifuss sagt. «Ich finde Menschen komisch», zum Beispiel. Oder: «Ich geniesse es, wenn mich niemand stört.» Es reibt sich an einem sozialen Grundkonsens: dass man sich beteiligt, einfügt, erreichbar ist. Autistinnen und Autisten können nicht auf diese Art denken und wollen sich am liebsten aus allem ausklinken.

Rechtlich gesehen gilt Autismus als Behinderung, sofern die Auswirkungen stark genug sind. In der Schweiz unterstützt die IV betroffene Menschen mit Angeboten rund um Schule und Beruf oder bei der Bewältigung des Alltags.

Sie führt ein 20-köpfiges Team

Dreifuss macht eine auf Autismus ausgerichtete Psychotherapie. «Es tut mir gut, soziale Situationen, die ich nicht verstehe, mit einer neutralen Person anzuschauen, um besser nachzuvollziehen, was in anderen vorgeht, aber auch in mir selbst.»

Das hilft ihr bei der Arbeit. Seit fünf Jahren leitet Dreifuss – sie ist ausgebildete Pflegefachfrau – mit einem 30-Prozent-Pensum ein schweizweit tätiges, fast zwanzigköpfiges Team, das Daten von Menschen mit implantierten Organen erfasst. «Meine Kolleginnen und Kollegen wissen, dass sie mir ein E-Mail schreiben müssen, wenn sie etwas von mir brauchen. Nur eine Person versucht noch immer, mich anzurufen.»

Neben Deutsch beherrscht sie mündlich und schriftlich Französisch, Englisch und Italienisch. Ihre exakte Arbeitsweise komme ihr bei ihrem Job entgegen. «Mein Autismus ist dort für einmal nützlich.»

Auf dem Perron des Bahnhofs Zürich-Stadelhofen zieht Dreifuss ihren Noise-Cancelling-Kopfhörer an. Musik hört sie keine. Sie braucht so viel Ruhe wie möglich.
Foto: Nathalie Taiana

Wir nähern uns dem Bahnhof Stadelhofen, von wo aus Joëlle Dreifuss zurück nach Altstetten fahren wird. Dort in der Nähe befindet sich das Büro von Autismus Schweiz, wo sie einmal pro Woche ehrenamtlich administrative Aufgaben erledigt.

Der Verein hat sich für den Sunflower Lanyard starkgemacht. Er will das Wissen und Verständnis rund um Autismus im ÖV, beim Einkaufen oder im Kontakt mit Behörden fördern und setzt sich unter anderem dafür ein, dass Betroffene, die arbeiten möchten, eine Stelle finden. Daneben organisiert der Verein Anlässe für Mitglieder. Für die Besuche im Zoo Zürich melden sich jeweils mehr als 500 Personen an.

Sind wir alle ein bisschen autistisch?

Die Schiebetür des Zugs öffnet sich. Menschen müssen raus, damit Neue hineinkönnen. Eine junge Frau starrt auf den Bildschirm ihres Smartphones, das sie auf Gesichtshöhe hält – und bemerkt nicht, dass sie allen im Weg steht.

In solchen Momenten spürt man auch ohne Autismus, wie mühsam der öffentliche Raum sein kann. Und wie erschöpfend. Sätze wie «Wir sind doch alle ein bisschen autistisch» nerven Dreifuss allerdings. «Man ist es, oder man ist es nicht.»

Wir verabschieden uns auf dem Perron – ohne Händedruck. Dreifuss schafft es nicht mehr so gut, Blickkontakt vorzutäuschen. Sie setzt sich ihre Noise-Cancelling-Kopfhörer auf, die Umgebungsgeräusche dämpfen, und klinkt sich aus. So gut es eben geht.

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