Darum gehts
Wenn die Kinder ausziehen, verändert sich das Familiensystem – und viele Eltern sehen sich plötzlich mit der Frage konfrontiert: Haben wir als Paar noch eine gemeinsame Zukunft? Familienberaterin Cornelia Munter (51) erklärt im Interview, wie Eltern sich im Familienalltag verlieren – und was es braucht, um einander wiederzufinden.
Blick: Viele Elternpaare kommen zu Ihnen, sobald die Kinder ausgezogen sind. Warum gerade dann?
Cornelia Munter: Weil Raum entsteht für persönliche Entwicklung und damit auch Fragen auftauchen: Wer bin ich, abgesehen von meiner Elternrolle? Und wer ist mein Partner oder meine Partnerin? Viele realisieren in dieser Phase, dass sie emotional nur noch wenig verbindet. Das Familienmanagement hat sie lange getragen, jetzt fällt dieses Gerüst weg.
Das Problem entsteht also viel früher?
Oft, ja. Wenn man sich kennenlernt, ist man verliebt, hat Pläne, gründet eine Familie, baut ein Haus, verfolgt Karrieren. Der Fokus liegt überall, nur nicht auf der Beziehung. Viele Paare verpassen es in dieser dynamischen Zeit, ihre emotionale Nähe richtig aufzubauen und zu pflegen.
Gemeinsame Jahre verbinden auch.
Auf eine gewisse Weise, ja. Viele Paare haben jahrelang gut als Team funktioniert. Sie haben gemeinsam organisiert und durchgehalten, sich aber als Paar aus den Augen verloren. Und wenn emotionale Nähe und Intimität fehlen, wird es auf Dauer schwierig.
Wie kann man vorbeugen?
Es hilft, wenn man konsequent Zeit für Nähe einplant, auch in der hektischen Rushhour des Familienlebens. Zehn Minuten echte Präsenz täglich reichen aus, um in Verbindung zu bleiben.
Was ist «echte Präsenz»?
Anwesenheit bedeutet nicht automatisch Nähe. Gemeinsam einen Film zusammen zu schauen, ist nicht dasselbe wie zehn Minuten echtes Zuhören. Präsenz heisst: Ich bin da – mit meinem Interesse, meiner Empathie. Viele Paare müssen diese Form der Kommunikation erst wieder lernen.
Gibt es frühe Anzeichen der Entfremdung?
Das erste Anzeichen ist oft ein Verlust der Intimität. Dann entstehen typische Symptome: Konflikte wiederholen sich, die Themen kreisen, das Fass läuft alle paar Tage über. Man fühlt sich ohnmächtig, erschöpft, leer. Ein Dasein in einer trüben Suppe. In meiner Praxis müssen Paare oft erst einmal klären: Was ist da noch? Wollen wir überhaupt weitermachen?
Wie findet man das heraus?
Ich visualisiere die Beziehung als Dreieck. Sie besteht aus Commitment, emotionaler Nähe und Intimität. Wenn ein Paar noch als Team funktioniert, aber nicht mehr als Liebespaar, wird nur noch das Commitment gelebt. Das sehe ich häufig.
Wie finden Paare zu Intimität und emotionaler Nähe zurück?
Als Erstes brauche ich von beiden ein Ja, dass sie daran arbeiten wollen. Dann vereinbaren wir einen klaren Rahmen – um Beispiel sechs Monate – um ein Zielbild zu entwickeln: Wer bin ich heute? Was wünsche ich mir in der Beziehung? Auf dieser Grundlage erarbeiten wir dann Themen: Kommunikation, Umgang miteinander, Sexualität, Werte, Bedürfnisse.
Was, wenn ein Partner kein Ja mehr geben kann?
Das Ziel muss nicht immer ein gemeinsamer Weg sein. Manchmal arbeitet ein Paar bei mir auch am Loslassen. Wenn jemand innerlich schon gegangen ist, muss das auch Platz haben. Ich versuche, ehrlich und wertschätzend herauszufinden, was noch möglich ist – oder eben nicht.
Wie erleben erwachsene Kinder die Trennung der Eltern?
Oft überraschend intensiv. Ich erinnere mich an eine Klientin, deren Eltern sich trennten, als sie 25 war. Die Trennung selbst erschütterte sie nicht so stark wie die Erkenntnis, dass sie all die Jahre in einer Scheinwelt gelebt hat. Ihre Eltern hatten Konflikte vor den Kindern verborgen, um die scheinbar intakte Familie zu erhalten. Das hat das Urvertrauen meiner Klientin erschüttert.
Eltern sollten also nicht wegen der Kinder zusammenbleiben?
Die Absicht ist verständlich, aber die Folgen können verheerend sein. Wenn Kinder durch ihr feines Gespür etwas anderes wahrnehmen, als die Erwachsenen vorleben, kann das langfristig ihr Vertrauen in die eigene Intuition schädigen. Viel gesünder ist es, den Kindern authentisch vorzuleben: Nicht alles ist perfekt, aber man kann ehrlich miteinander umgehen, gemeinsam nach Lösungen suchen oder auch einen respektvollen Abschied finden. Kinder erleben dann, dass die Familie und Werte erhalten bleiben, auch wenn die Eltern kein Liebespaar mehr sind.
Wie realistisch ist es, dass entfremdete Elternpaare sich wiederfinden?
Wenn beide wirklich wollen, ist die Chance gut – ich würde sagen, rund 70 Prozent. Wichtig ist: Es geht nicht um ein Zurück zum Alten, sondern um ein neues, bewusstes Miteinander.