Brauchen Kinder Einzelzeit?
Erziehung muss nicht immer fair sein

Ein Elternpaar aus England kassierte kürzlich einen Shitstorm, weil es mit nur einem seiner Kinder verreiste. Familientherapeutin Maren Tromm erklärt, warum Einzelzeit mit Kindern hin und wieder unfair ist, aber trotzdem wichtig. Und wie sie selbst es damit hält.
Publiziert: 12:06 Uhr
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Aktualisiert: 12:48 Uhr
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Darum gehts

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Sylvie KempaRedaktorin Service

Neulich im Badezimmer: «Ich war müde, wollte einfach ins Bett», erzählt Familientherapeutin Maren Tromm (51). «Neben mir putzte meine Tochter die Zähne und begann, zu erzählen – über einen blöden Spruch in der Schule, über etwas Schönes mit ihrer Freundin. Ich sagte nichts, hörte nur zu. Und am Schluss? Da legte sie ihre Zahnbürste weg, umarmte mich und sagte: ‹Gute Nacht, Mama. Du bist die Beste.›»

Maren Tromm ist Familientherapeutin, Erziehungsberaterin und Co-Autorin des Ratgeberbuches: «Schluss mit Schimpfen für Dummies».
Foto: Ⓒ Susann Köhler

Solche Momente sind Gold wert – besonders in Familien mit mehreren Kindern. Denn diese wenigen Minuten zählen zur sogenannten Einzelzeit: exklusive Augenblicke zwischen einem Elternteil und nur einem Kind.

Eine traumatische Erfahrung fürs andere Kind?

Eltern von heute sind so reflektiert wie kaum eine Generation vor ihnen. Viele informieren sich bewusst und möchten in der Erziehung ihrer Kinder möglichst alles richtig machen. «Daher denken auch viele: Ich muss meinem Kind eine gewisse Menge ungeteilter Aufmerksamkeit schenken», beobachtet Tromm. So wie Giorgia und Chris Brown aus London, die nur mit ihrem jüngeren Sohn in dessen erste Schulferien fuhren und den älteren bei den Grosseltern liessen. Ihre Begründung: Der ältere Bub habe seine ersten Schulferien ja auch mit ihnen allein verbracht. 

Das Paar kassierte einen Shitstorm par excellence. «Das ist furchtbar. Und falsch. Der arme ältere Bub!» oder «Dem Älteren wird das Trauma viel länger in Erinnerung bleiben als dem Jüngeren die Ferien» sind noch einige der harmloseren Kommentare. 

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Die positiven Effekte von Einzelzeit 

Und immer wieder: Einzelzeit für Kinder sei überbewertet. Früher habe man das schliesslich auch nicht gebraucht. «Wer das behauptet, liegt falsch», stellt die Expertin klar. In früheren Familiengenerationen ergab sich Einzelzeit natürlicherweise – beim Kartoffelschälen oder während eines Gesellschaftsspiels. «Heute muss man solche Momente zwischen Alltagsstress und Ablenkung bewusster einplanen.» 

Kinder, die ungeteilte Aufmerksamkeit erhalten, entwickeln ein stärkeres Selbstbewusstsein. Sie fühlen sich emotional sicherer, von ihrem Umfeld gesehen, und sie sind oft besser reguliert. Das gelte besonders für neurodivergente Kinder, sagt Tromm. «Mir fällt auf, dass gerade hochsensible Kinder oder Kinder mit AD(H)S stark auf Einzelzeit ansprechen.»

Einzelzeit ist jedoch auch für die Erwachsenen bedeutsam. «Ungeteilte, positive Aufmerksamkeit stärkt jede Bindung. Und sie erleichtert die Erziehungsarbeit», so die Mutter von zwei Teenagern. «Als Elternteil habe ich die Funktion eines Lebenscoachs. Diese Aufgabe kann ich viel selbstsicherer wahrnehmen, wenn ich immer wieder meinen Blick bewusst nur auf ein Kind richte und sehe, was es braucht und wo es steht.»

Wie viel Einzelzeit ist nötig?

Wie viel Einzelzeit ein Eltern-Kind-Paar braucht, ist individuell. Es geht nicht um die Menge, sondern um die Magie. «Einzelzeit muss nicht aussehen wie auf Social Media. Dein Kind will deine Präsenz – nicht die perfekte Inszenierung», sagt Tromm.

Einzelzeit muss auch nicht lange dauern. Sie wirkt nicht nur bei Ferien oder Ganztagesausflügen, sondern vor allem in regelmässigen zugewandten Momenten im Alltag.

Einzelzeit im Snack-Format für stressige Zeiten

Keine Zeit für Einzelzeit? Gibts nicht. Laut Maren Tromm lassen sich verbindende Momente zwischen einem Elternteil und einem Kind im stressigsten Familienalltag unterbringen. Die Familientherapeutin teilt ihre Ideen:

  • Beim Kochen oder Backen gezielt ein Kind einbeziehen
  • Gemeinsam einkaufen gehen und ein Lebensmittel auswählen, das das Kind ausprobieren möchte
  • Beim Aussteigen aus dem Auto sich einfach dem Tempo des Kindes anpassen, anstatt effizient vorwärtskommen zu wollen: sitzenbleiben, vielleicht ein paar Worte wechseln
  • Wenn ein Kind nach Hause kommt, bewusst einen Moment Augenkontakt halten und nach dem Tag fragen, um den Übergang zurück in die Familienstruktur zu begleiten
  • Ein Wochenritual etablieren: zum Beispiel immer dienstags zusammen einen Kakao trinken oder jeden Donnerstag einen Hausaufgabenapéro geniessen
  • Mikrorituale nutzen: zum Beispiel beim Zubettgehen immer nach dem schönsten Moment des Tages fragen oder einen Zähneputztanz erfinden
  • Gemeinsam Lego bauen oder zeichnen – dabei muss man nicht einmal reden, einfach nebeneinandersitzen

Keine Zeit für Einzelzeit? Gibts nicht. Laut Maren Tromm lassen sich verbindende Momente zwischen einem Elternteil und einem Kind im stressigsten Familienalltag unterbringen. Die Familientherapeutin teilt ihre Ideen:

  • Beim Kochen oder Backen gezielt ein Kind einbeziehen
  • Gemeinsam einkaufen gehen und ein Lebensmittel auswählen, das das Kind ausprobieren möchte
  • Beim Aussteigen aus dem Auto sich einfach dem Tempo des Kindes anpassen, anstatt effizient vorwärtskommen zu wollen: sitzenbleiben, vielleicht ein paar Worte wechseln
  • Wenn ein Kind nach Hause kommt, bewusst einen Moment Augenkontakt halten und nach dem Tag fragen, um den Übergang zurück in die Familienstruktur zu begleiten
  • Ein Wochenritual etablieren: zum Beispiel immer dienstags zusammen einen Kakao trinken oder jeden Donnerstag einen Hausaufgabenapéro geniessen
  • Mikrorituale nutzen: zum Beispiel beim Zubettgehen immer nach dem schönsten Moment des Tages fragen oder einen Zähneputztanz erfinden
  • Gemeinsam Lego bauen oder zeichnen – dabei muss man nicht einmal reden, einfach nebeneinandersitzen

Wichtig ist, dass Einzelzeitmomente nicht von Regeln oder elterlichen Vorgaben dominiert sind. «Das Kind darf mitbestimmen, wo, wie und was passiert. Wenn Eltern zwar mit einem Kind allein etwas unternehmen, dabei aber nur Anweisungen geben und den Ton angeben, ist das für ein Kind das Gegenteil eines schönen, verbindenden Moments.»

Wenn sich das andere Kind ausgeschlossen fühlt

Einzelzeit lässt sich gut in alltägliche Situationen integrieren: «Mein Sohn und ich können gut zusammen einkaufen – also machen wir das gern. Mit meiner Tochter stehe ich oft in der Küche. Beim Backen harmonieren wir, wenn wir nur zu zweit sind», sagt die Expertin.

Kurz kuscheln – auch das ist Einzelzeit, die zählt.
Foto: imago/Westend61

Wenn sich das zweite Kind in solchen Momenten ausgeschlossen fühlt, erklärt sie es ihm ganz pragmatisch: «Ja, das verstehe ich. Das fühlt sich jetzt unfair an – und das ist okay. Was könntest du jetzt tun, damit das Gefühl besser wird? Denn leider ist das Leben nicht immer fair, mein Schatz!»

Fairness liegt in der Einzelzeit, nicht in der Quantität. «Fair ist es dann, wenn jedes Kind weiss: Ich werde gesehen, gehört und verstanden.»


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