Darum gehts
Es ist bereits dunkel im Haus, wenn du die Wohnungstür aufschliesst. Der Tag im Büro war hart, jetzt muss noch etwas zum Essen her. Am besten gesund. Aber unter Zeitdruck greifst du lieber zum Fertiggericht. «Morgen fange ich an, gesund zu essen», nimmst du dir vor, während die Pasta arrabiata in der Mikrowelle ihre Kreise dreht.
Solche oder ähnliche Situationen schildern Ratsuchende bei Michelle Widmer (40) in der Praxis Esslösungen in Bern immer wieder. Widmer ist Ernährungsberaterin SVDE mit Bachelorausweis und eidgenössisch zertifizierte Beratungstherapeutin. «Kommt jemand zu mir und will gesünder essen, muss ich den Wunsch erstmals entschlüsseln», sagt sie.
Zunächst müsse geklärt werden, was denn «gesund» für die Person genau bedeute und beinhalte. Für manche ist es, weniger Zucker zu sich nehmen, andere wollen Verdauungsbeschwerden loswerden. «Es ist meist ein grösseres Paket, das es aufzusplitten gilt», sagt Widmer.
Strategien entwickeln, die halten
Hat man den Kern erkannt, kann man davon einen Plan ableiten. Widmer arbeitet mit kleinen, kurzfristigen und vor allem realistischen Zielen. «Manche Gewohnheiten haben sich zehn, zwanzig Jahre aufgebaut, das kann man nicht in zwei Minuten umkrempeln.»
Ein Ziel kann sein: «Mehr Gemüse einkaufen» oder «zweimal die Woche Gemüse essen». Sind mehrere Ziele präsent, kann es wichtig sein, nochmals zu evaluieren und priorisieren, welche Ziele wichtiger sind.
Auf Ernährungstagebücher setzt die Expertin selten: «Diese sind oft mit erhobenem Zeigefinger aufgesetzt. Das macht weder Spass, noch fühlt man sich gut dabei, Einträge zu machen.»
Locker gehaltene Protokolle hingegen können Erfolge sichtbar machen – indem man zum Beispiel einträgt, wie oft man das Ziel erreicht hat. Gleichzeitig helfen sie, Muster zu erkennen: Wann habe ich Süsses gegessen? Wie ging es mir in diesem Moment? Warum habe ich danach gegriffen? Was hat möglicherweise dazu beigetragen, mein Ziel umzusetzen?
Hinter Gewohnheiten stecken Bedürfnisse
«Essgewohnheiten sind oft mit Bedürfnissen verbunden», sagt Widmer, die sich auch mit dem Konzept des intuitiven Essens befasst. Essen kann neben der Nahrungsaufnahme beispielsweise auch eine Pause in einen stressigen Tag bringen.
«Erkenne ich, dass ich in diesem Fall eigentlich eine Pause brauche und nicht Nahrung, kann ich nach Alternativen suchen, die unerfüllte Bedürfnisse stillen». Infolge werde es einfacher, in solchen Momenten nicht auf Essen zurückzugreifen.
Wichtig sei, sich von Denkfehlern und Mythen zu lösen. «Weit verbreitet ist die Annahme, dass man zu wenig Disziplin hat oder nicht willensstark ist, wenn man Diäten nicht einhält.» Solche Denkmuster können Frust und negative Gefühle hervorrufen, weshalb gute Vorsätze dann nicht halten. Ohnehin seien Diäten keine nachhaltige Methode für Gewichtsverlust.
Neue Glaubenssätze formulieren
Ein Schlüssel zum Erreichen der Ziele liegt in den Glaubenssätzen, die oft seit der Kindheit mitschwingen: Der Teller muss leer sein, nichts darf weggeworfen werden, Dessert geht immer. «Das sind Denk- und Verhaltensmuster, die wir nicht einfach ablegen. Aber wir können Neue aufbauen.»
Hierbei kommt es auch auf die Formulierung an. Nimmt man sich beispielsweise vor, auf etwas zu verzichten, sollte man diesen Glaubenssatz aktiv formulieren. Ein Verbot macht das Lebensmittel nur attraktiver. «Mit der Verneinung im Satz denke ich jedes Mal an Alkohol oder Süsses, davon möchte ich ja aber loskommen.»
Viel besser sei es daher, den Inhalt umzukehren, etwa: «Ich probiere in der Bar den Hauseistee» oder «Wenn ich satt bin, höre ich auf zu essen».
Positive Routinen
Sind die Bedürfnisse einmal analysiert, die Ziele gesetzt und neue Glaubenssätze formuliert, stellt sich die Frage: Wie lange dauert es, bis die neue Gewohnheit wirklich greift? Drei Monate? Ein Jahr?
«Erfahrungsgemäss dauert es länger», sagt Widmer. «Manche Studien sprechen von drei Monaten, aber es geht nicht um stures Wiederholen.» Es brauche Zeit, das Verhalten unter verschiedenen Bedingungen, wie Stress, zu üben und Vorteile zu spüren.
Und: Rückfälle gehören dazu. «Es ist völlig normal, dass es Aufs und Abs gibt», sagt Widmer. Wichtiger sei es, zu erkennen, wann alte Gewohnheiten wieder kommen und herauszufinden, was noch notwendig ist oder übersehen wurde. Denn der Weg zu nachhaltigen Ernährungsgewohnheiten beginnt nicht auf dem Teller, sondern im Kopf.