Psychologe Steve Ayan
«Denken macht uns nicht glücklicher»

Wer klug ist, spiegelt sich und sein Leben ständig und kompromisslos. Ein Fehler, warnt der Psychologe Steve Ayan. Übertriebene Selbstreflexion macht uns oft unzufrieden.
Publiziert: 05.04.2017 um 06:23 Uhr
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Aktualisiert: 12.10.2018 um 16:07 Uhr
Foto: Hardy Mueller/laif
Interview: Franziska K. Müller 

Mehr Bewusstsein! Mehr Konzentration! Mehr Achtsamkeit! Die Liste an Ermahnungen, die uns zu einem besseren Ich und einem glücklicheren Leben führen sollen, ist lang und wird immer länger. Verbunden mit dem intensiven Nachdenken über sich selbst entsteht allerdings das Gegenteil von mentaler Lockerheit, sagt der deutsche Psychologe und Autor ­Steve Ayan.

Diese und andere Aussagen des 45-Jährigen bestätigen Hirn- und Verhaltensforscher. Die Macht des bewussten Denkens ist weit ­enger begrenzt als angenommen, und wer sein Tun bewusst zu steuern versucht, hat regelmässig das Nachsehen – beim Lernen und ­Vergessen, im sozialen Umgang und im Versuch, sein Verhalten zu ändern oder mehr Freude empfinden zu können. «Im weniger Denken hingegen liegt die Möglichkeit, mehr Kraft und Klarheit zu schöpfen», sagt Ayan.

Er empfiehlt in seinem jüngsten Buch mehr ­Gedankenlosigkeit! Mehr Selbstvergessenheit! Mehr Tagträumereien!

BLICK: Herr Ayan, ich kenne mehr Menschen, die kaum über sich und ihr Leben nachdenken. Sind die glücklicher als Vieldenker?
Steve Ayan: Glücklicher wohl kaum, aber im Gegenzug oft zufriedener.

Sie propagieren in Ihrem neusten Buch explizit die Meinung, weniger über sich nachdenken bringe mehr.
Genau. Ich bin erstaunt, wie sehr die meisten Menschen davon überzeugt sind, ein gutes, gelingendes Leben ­hänge einzig und allein von der richtigen, sprich: bewussten Einstellung ab. Das entspricht weder meiner persönlichen Erfahrung – die besten und erfolgreichsten Momente erlebe ich in der Regel, wenn ich mir über mein Handeln gerade nicht so bewusst bin –, noch lässt sich das Primat des bewussten Lebens wissenschaftlich beweisen. Es gibt im Gegenteil eine Vielzahl von Gelegenheiten, in denen uns zu viel Bewusstsein und zu viel Selbstaufmerksamkeit im Weg stehen.

Viele grübeln dennoch ständig über sich selbst nach. Welches sind gemäss Ihren Studien die häufigsten Fragen, die die Menschen beschäftigen?
Wer bin ich und was will ich? Sie stehen an oberster Stelle. ­Gefolgt von der Angst, was andere über ­uns denken – und dem Wunsch, etwas zu gelten.

Gedankenbremsen für den Notfall

Quer- und Vordenker: Der deutsche Psychologe Steve Ayan (45) schreibt wissenschaftlich fundierte Ratgeber zwischen Psychologie und Hirnforschung. In seinem jüngsten Werk «Lockerlassen – Warum weniger denken mehr bringt» listet er Tipps auf, wie wir unsere Denkzentrale beruhigen können, wenn sie uns wieder einmal zu sehr ins Grübeln bringt.

Repetitive Handlungen: Wippen, Pfeifen, Summen oder Zungenschnalzen unterbrechen dumme Gedanken – und sorgen für eine Art Minitrance.

Befehle erteilen: Dreht das Gedankenkarussell im Kopf immer schneller, es mit einem laut gesprochenen «Stopp» zum Anhalten bringen. 

Nachäffen: Eine Emotion und einen dazu passenden Menschen auswählen und zwei Minuten lang imitieren – und schon passiert ein Sinneswandel. 

Loslegen: Ohne gross nachzudenken, das Erstbeste machen, was einem einfällt. Nach einigen Minuten ebenso gedankenlos zu einer zweiten Aktivität übergehen. Und schon beruhigen sich die Gedankengänge.

Quer- und Vordenker: Der deutsche Psychologe Steve Ayan (45) schreibt wissenschaftlich fundierte Ratgeber zwischen Psychologie und Hirnforschung. In seinem jüngsten Werk «Lockerlassen – Warum weniger denken mehr bringt» listet er Tipps auf, wie wir unsere Denkzentrale beruhigen können, wenn sie uns wieder einmal zu sehr ins Grübeln bringt.

Repetitive Handlungen: Wippen, Pfeifen, Summen oder Zungenschnalzen unterbrechen dumme Gedanken – und sorgen für eine Art Minitrance.

Befehle erteilen: Dreht das Gedankenkarussell im Kopf immer schneller, es mit einem laut gesprochenen «Stopp» zum Anhalten bringen. 

Nachäffen: Eine Emotion und einen dazu passenden Menschen auswählen und zwei Minuten lang imitieren – und schon passiert ein Sinneswandel. 

Loslegen: Ohne gross nachzudenken, das Erstbeste machen, was einem einfällt. Nach einigen Minuten ebenso gedankenlos zu einer zweiten Aktivität übergehen. Und schon beruhigen sich die Gedankengänge.

Seit Jahren wird uns eingeredet, dass wir nur dann glücklich werden, wenn wir möglichst bewusst durchs Leben gehen. Was halten Sie dagegen?
Vor allem zwei Argumente: Erstens blicken wir introspektiv nicht auf unser wahres Ich, was immer das sein mag, sondern erfinden Chimären. Jagen wir jedoch diesen Wunsch- oder Zerrbildern nach, macht ­uns das unter Umständen unglücklicher, als wenn wir es erst gar nicht erst versuchten. ­Zweites führen die daraus gewonnenen ­Einsichten, falls wir überhaupt zu welchen kommen, auch nicht selbstredend zu den richtigen Handlungen.

Wohin führt der grassierende Bewusstseinsfimmel in extremis?
Im schlimmsten Fall zu einer Art Hyperaufmerksamkeitssyndrom. Hier kann man sich dann vor lauter Bedenken und Sorgen zu überhaupt keinem Entschluss mehr durchringen. Auch Ängste und Depressionen ­können daraus resultieren. Unser Bewusstseinsfimmel geht allerdings nicht ganz so weit, er sorgt letztlich trotzdem dafür, dass wir mit uns und unserem Leben unzufriedener sind als nötig.

Die Selbstaufmerksamkeit entspringt fast immer dem Wunsch, möglichst ­authentisch, «bei sich» zu sein.
Haben Sie einen Tipp, wie sich das ohne Dauer-Introspektion erreichen lässt?
Zuallererst müssen wir begreifen, dass wir unser Ich, unsere Talente und Bedürfnisse, nicht durch Nachdenken im stillen Kämmerlein erkennen. Dazu muss man rausgehen und Dinge ausprobieren, sich an der ­Gemeinschaft mit anderen etwas berauschen. Hingabe und Leidenschaft schaffen ­jenen Abstand, den wir brauchen, um uns selbst zu erkennen. Leider kommen die wenigsten Bewusstseinsfimmler auf diese Idee.

Und stehen sich mit allzu festgefahrenen Ideen selbst im Weg?
Wer strikt an einer einzigen Suchstrategie, an einem Schema F festhält, verbaut sich manche Chance.

In Ihrem Buch sprechen Sie in diesem ­Zusammenhang von Serendipität.
Ein hässliches Wort, aber Serendipität ­beschreibt punktgenau die Tatsache, dass wir viele bedeutsame Entdeckungen ­genau dann machen, wenn wir nicht danach ­suchen. ­Diesem Talent verdanken wir zahlreiche ­Erfindungen und wissenschaftliche Durchbrüche, zum Beispiel Viagra, Tesafilm und das Internet.

Serendipität bezeichnet offenbar auch die Gabe, mit der wir dem Glück auf die Sprünge helfen.
Sie vereint Experimentierfreude, ­Offenheit und Sinn für vermeintlich Nebensächliches.

In diesem Sinn plädieren Sie für mehr ­Intuition, mehr Nichtdenken. Was bringt uns das genau?
Zuallererst: Lockerheit. Also jene entspannte Geisteshaltung, die Zufällen und Widrigkeiten gegenüber offen ist – und uns hilft, dass wir persönliche Schwächen, Konflikte, Sehnsüchte besser akzeptieren. Feldstudien und Experimente zeigen, dass wir oft gerade dann klüger entscheiden und nach den Entscheidungen auch zufriedener sind, wenn wir nicht alles ständig bedenken und analysieren. Wer zu viel abwägt und für ­alles eine Erklärung sucht, spinnt am Ende nur einen Haufen Theorien – und die braucht niemand.

Wo schadet mangelnde Lockerheit am meisten?
Zu erwähnen sind: die Kindererziehung und das Zwischenmenschliche, etwa in einer Partnerschaft oder auf Partnersuche. Viele Singles haben sehr enge, klare Vorstellungen, wie ihr Traumpartner auszusehen hat. In ­diesem Korsett erkennen sie nicht einmal mehr die netten Leute um sich herum. Und dass einer davon zu ihnen passen würde. Wissenschaftler nennen jene, die flexibel sind und dem Zufall eine Chance geben, ­Super-Encounterer.

Was aber, wenn sich ein Problem trotz Lockerheit nicht in Luft auflöst?
Am besten ruhen lassen. Warum? Weil es eine unterschwellige, intuitive Art der Informationsverarbeitung gibt, die uns oft zur richtigen Antwort führt. Ohne dass wir sie bewusst und analytisch hergeleitet hätten. Ich behaupte keineswegs, dass man immer nur auf sein Bauchgefühl hören sollte, aber auch.

Fällt Intuition Ihrer Ansicht nach vom Himmel?
Nein, kein bisschen. Sie steckt vielmehr in uns, man muss sie nur zulassen. Nachdenken und Ruhenlassen sind ja keine Gegensätze, sie ergänzen sich idealerweise. Ich selbst denke eine Weile nach, und dann tue ich ­etwas ganz anderes, etwas Gedankenloses. So komme ich regelmässig auf gute Einfälle. Das System funktioniert, versuchen Sie’s.

Woher rührt denn das viele Denken und Bewusstmachen?
Da kommen mehrere Dinge zusammen. ­Zunächst einmal ist es generell sehr gut und gesund, wenn wir glauben, unser Geschick selbst in den Händen zu halten und mit der richtigen Einstellung etwas in seinem ­Leben bewirken zu können. Dieser Glaube an die ­eigene Selbstwirksamkeit, wie Psychologen das nennen, ist unbestritten. Nur: Dieser Glaube wird leider oft ins Extrem getrieben, so als hinge alles Glück einzig von diesem Punkt ab.

Selbst ein Schnupfen gilt mittlerweile als selbst verschuldet: weil wir gerade nicht in unserer Mitte sind.
Genau. Das ist natürlich Quatsch und erzeugt oft unnötige Schuldgefühle. Der Mythos vom «Du hast es selbst in der Hand» ist letztlich auch eine Erfindung jener Märkte, auf denen allerlei Psychoweisheiten und Dinge zur ­Selbstoptimierung feilgeboten werden. Unser Denken ist von diesen Argumenten durchdrungen: Wenn du nicht glücklich bist, hast du ein Problem, das du bewusst ändern musst. Ich aber glaube, wir sind oft besser dran, wenn wir es sein lassen.

Steve Ayan über ...

... Gedanken, die man loswerden möchte: Ganz einfach! Auf einen Zettel schreiben, und den subito in einer Schublade verstauen. ... Selbstoptimierung: Führt in den wenigsten Fällen tatsächlich zum ­gewünschten Erfolg. ... glückliche Zufälle: Ergeben sich erst, wenn man der Welt gegenüber aufgeschlossen ist. ... Intuition: Ist auf dem Weg zu grösserer Lockerheit ­massgebend. ... spontane Entscheidungen: Fühlen sich in der Regel weit besser an als die durchdachten.

... Gedanken, die man loswerden möchte: Ganz einfach! Auf einen Zettel schreiben, und den subito in einer Schublade verstauen. ... Selbstoptimierung: Führt in den wenigsten Fällen tatsächlich zum ­gewünschten Erfolg. ... glückliche Zufälle: Ergeben sich erst, wenn man der Welt gegenüber aufgeschlossen ist. ... Intuition: Ist auf dem Weg zu grösserer Lockerheit ­massgebend. ... spontane Entscheidungen: Fühlen sich in der Regel weit besser an als die durchdachten.

In Ihrem Buch nennen Sie jene Felder, die besonders davon betroffen sind.
Für mich steht fest: Die Fülle moderner ­Ernährungsmythen, eingebildeter Unver­träglichkeiten und psychosomatischer ­Beschwerden ist nicht zuletzt ein Produkt ­dieses Bewusstseinsfimmels.

Viele hoffen, durch Kontrolle, wenn sie alles im Griff haben, zu ihrem Glück zu ­finden. Ein Holzweg?
Eine aufschlussreiche Studie kalifornischer Psychologen ergab, dass Menschen, die ihr persönliches Glück besonders wichtig nahmen und sehr stark darauf achteten, im ­Alltag seltener Glücksmomente erleben. Das liegt zum einen daran, dass die Konzentration auf das Glück die Ansprüche in unrealistische Höhen wachsen lässt. Wenn ich mich dauernd frage, ob ich glücklich bin, habe ich keine Kapazität mehr, das Glück tatsächlich zu spüren. Der paradoxe Effekt dieser Selbstaufmerksamkeit: So manches entgeht uns, gerade weil wir es unbedingt haben wollen.

Um locker zu werden, sich dem Laisser-­faire hinzugeben, muss man manches ­beachten. Endet das nicht wieder in Grübe­leien und Selbstkontrolle?
Wenn wir es falsch anstellen, schon. Wir können uns nicht denkend das Denken austreiben. Aber wir können uns Gelegenheiten für selbstvergessene Momente schaffen. Routinen, Bewegungen, Musik, sinnloses Herumalbern. Mein Plädoyer für die Tugend der Selbstvergessenheit ist ja kein Dogma. Was der Einzelne daraus macht und wie er es mit Leben füllt, bleibt ihm selbst überlassen.

Zur Person

Steve Ayan (45) ist Psychologe und Wissenschaftsjournalist. Als Kenner der Neuro- und Kognitionsforschung staunt er immer wieder, wie hartnäckig sich der Glaube an die Macht des bewussten Nachdenkens hält. Seine Beschäftigung mit den damit verbundenen Fallstricken brachte ihn zum Schluss: Ständige Achtsamkeit und Konzentration auf ­die eigenen Handlungsweisen sind kontraproduktiv. Darüber hat er ein Buch geschrieben: «Lockerlassen – Warum weniger denken mehr bringt». Ayan ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Heidelberg (D).

Steve Ayan (45) ist Psychologe und Wissenschaftsjournalist. Als Kenner der Neuro- und Kognitionsforschung staunt er immer wieder, wie hartnäckig sich der Glaube an die Macht des bewussten Nachdenkens hält. Seine Beschäftigung mit den damit verbundenen Fallstricken brachte ihn zum Schluss: Ständige Achtsamkeit und Konzentration auf ­die eigenen Handlungsweisen sind kontraproduktiv. Darüber hat er ein Buch geschrieben: «Lockerlassen – Warum weniger denken mehr bringt». Ayan ist verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Heidelberg (D).

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