Es ist ein kühler Morgen, erste Sonnenstrahlen dringen bereits durch die Baumkronen. Die Luft ist dämpfig und kündigt die bevorstehende Hitze des Tages an. Chantal Hinni (47) stapft durch den Berner Stadtwald, den Blick konzentriert auf den Boden. Sie ist auf Pilztour. Die Leidenschaft für das Pilzen hat sie von ihrem Vater, mit dem sie seit klein auf im Wald unterwegs war. Sie bückt sich, zieht vorsichtig etwas aus dem moosigen Waldboden, hält es hoch und ruft: «Ein Eierschwämmli!»
«Die ersten Eierschwämme habe ich dieses Jahr bereits Ende Juni gefunden», erzählt die zertifizierte Pilzkontrolleurin. Der beliebte Speisepilz ist diesen Sommer besonders früh dran. Grund: der viele Regen.
Gibt es eine Rekordsaison?
«Die meisten Pilze mögen Feuchtigkeit, Wärme und Licht, doch sie reagieren fragil auf Wetterveränderungen», erklärt Hinni. Einige Arten, wie Eierschwämmli oder Trompetenpfifferlinge, würden deshalb von dem vielen Regen profitieren. Sie wachsen früher und in grösseren Mengen. «Von der Herbsttrompete habe ich Anfang August schon hundert Stück gefunden – letztes Jahr waren es in der ganzen Saison nur zehn.»
Bereits im Juli war die Nachfrage der Pilzsammler bei den Kontrollstellen gross – obwohl die im Frühsommer noch geschlossen sind. Vieles deutet auf eine Rekordsaison hin, für konkrete Zahlen ist es jedoch zu früh.
Klimawandel beeinflusst Pilze
Diese Entwicklung ist nicht neu. «Die klassische Herbstsaison gibt es schon seit Jahren nicht mehr», so Marionna Schlatter von der Vereinigung amtlicher Pilzkontrollorgane der Schweiz (Vapko). Ganz im Gegenteil: «Die Saison beginnt früher und endet später. Zwischen Juni und November kann praktisch alles passieren.» Treiber dessen seien der Klimawandel und die daraus resultierende Erderwärmung.
«Viele Pilze mögen die Wetterveränderung», erklärt sie. Das Problem: Man könne den Pilz nie individuell betrachten, denn er lebe immer in Symbiose mit anderen Pflanzen und Bäumen. «Schadet die Wetterveränderung dem Ökosystem, so schadet sie auf Dauer auch dem Pilz selbst.»
Wie sensibel die Pilze aufs Klima reagieren, zeigen exotische und südländische Arten, die plötzlich in der Schweiz zu finden sind. «Letztes Jahr habe ich hier im Mittelland einen Ölbaumpilz gefunden, den gibt es sonst im mediterranen Raum», sagt Chantal Hinni. In Weiterbildungen lernen Pilzkontrolleurinnen immer mehr über neue Pilze. «Ich könnte 102 Jahre alt werden und trotzdem jedes Jahr Pilze finden, die ich noch nie zuvor gesehen habe.»
«Im Zweifel niemals essen»
Mittlerweile ist sie tiefer in den Wald vorgedrungen. Beim Sammeln achtet Hinni nicht nur auf den Boden, sondern sieht sich auch die Umgebung genau an. «Bestimmte Pilze leben bevorzugt in Partnerschaften. Eierschwämmli findet man zum Beispiel oft in der Nähe von Fichten und Buchen.» Wieder zieht sie einen Pilz aus dem Boden, säubert ihn mit einer Bürste und riecht daran. «Aha! Hier haben wir einen bösen Zwilling!» In der Hand hält sie einen Grauen Wulstling: «Der riecht nach feuchtem Keller.» Der gute Zwilling ist der Perlpilz, ein schmackhafter Speisepilz.
Hinnis wichtigste Regel lautet: «Im Zweifel niemals essen und sich an die Pilzkontrolle wenden!» Viele Pilzvereine bieten wöchentliche Bestimmungsabende an, bei denen Pilzkontrolleure und -kontrolleurinnen die Pilzausbeute untersuchen.
Immer mehr junge Menschen beim Pilzen
«Pilze sammeln ist in den letzten Jahren regelrecht zum Trend geworden», sagt Hans-Peter Neukom. Er ist seit 30 Jahren als Kontrolleur für den Pilzverein Zürich in Küsnacht tätig. Darunter seien auch immer mehr junge Leute. Diesen Eindruck bestätigt auch Chantal Hinni: «Pilze sammeln ist längst kein Altherren-Hobby mehr!»
Aber: Mehr Pilzler bedeuten auch mehr Vergiftungen. 2019 war die Zahl der Pilzvergiftungen in der Schweiz so hoch wie noch nie, und auch 2020 haben sich laut dem Institut Tox Info Suisse über 500 Menschen vergiftet. Und: Mehr Pilzler bedeuten auch grössere Ausbeuten. Wird jedoch zu viel gepflückt, schadet das dem Pilzvorkommen. Chantal Hinni betont: «Nachhaltiges Handeln beim Sammeln ist wichtig. Man muss nicht jeden Pilz, den man findet, pflücken. Lasst insbesondere die jungen stehen!»