Gräuliche Mitternacht im grimmen Dezember: Die Kohle im Feuer verglüht matt und erschafft ein Geisterlicht – da pocht es. So beginnt das Grusel-Gedicht «Der Rabe» (1845) des amerikanischen Horror-Poeten Edgar Allan Poe (1809–1849). Und weiter: «Auf warf ich das Fenstergatter, als herein mit Geflatter schritt ein stattlich stolzer Rabe wie aus Sagenzeiten her.» Das ist wohl der berühmteste Text über den grossen schwarzen Vogel. Er beeinflusst unsere Sicht auf das schauerlich-schlaue Tier bis heute.
«In Literatur und Film finden sich verschiedene Beispiele, bei welchen Rabenvögeln negative Eigenschaften angedichtet wurden», sagt Martina Schybli (36), Mediensprecherin der Schweizerischen Vogelwarte Sempach LU. «Solche Geschichten bleiben nicht selten im Gedächtnis haften.» Unvergesslich die Szene aus dem Spielfilm «Die Vögel» (1963) von Alfred Hitchcock (1899–1980), in der sich das Schwarzgefieder dutzendfach auf dem Klettergerüst eines Pausenplatzes versammelt, bevor es sich krächzend auf flüchtende Schüler und die sie beschützende Melanie Daniels (Tippi Hedren) stürzt.
Ein Spuktier, ein dämonisches Wesen, das mit der Totenwelt zusammenhängt, eine Verwandlungsform von Hexen: «Es sind besonders die Seelen von bösen Menschen, welche als Raben erscheinen», heisst es im «Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens». Entsprechend findet der Volksmund eindeutige Worte: Rabenschwarz, Rabeneltern, Unglücksrabe oder die Redensart «Stehlen wie die Raben» sind nur ein paar Beispiele für negative Ausdrucksweisen.
Mit Gesten und Gesang kommunizieren
«Nicht zuletzt dürften wohl auch die schwarze Farbe und das wenig melodische Krächzen eine gewisse Rolle spielen», sagt Schybli, die seit vergangenem Sommer zusätzlich als Rabenvogelexpertin an der Vogelwarte Sempach amtet. Die ausgebildete Veterinärmedizinerin hat eine Schwäche für die cleveren Tiere, sie weiss aber auch: «Bunte sowie melodisch singende Vögel wecken bei der Bevölkerung oftmals mehr Sympathien.» Und diesen Vergleich müssen sie sich gefallen lassen, denn die Familie der Rabenvögel gehört zur Unterordnung der Singvögel.
Kraa! Kraa! Kraa! Dieser «Gesang» brachte einigen Vertretern der Rabenvögel den lautmalerischen Namen Krähen ein. «Rabenvögel können jedoch auch leise plaudernd singen und verfügen über vielfältige Rufe», sagt Schybli. «Manche Arten, wie zum Beispiel der Eichelhäher und der Kolkrabe, sind talentierte Imitatoren.» Der Zoologe Ueli Pfister (59) machte bereits 1995 an der Universität Bern im Rahmen seiner Dissertation «Kolkrabenkommunikation» 81 verschiedene Ruftypen aus – angeborene und Eigenkreationen, woran sich die Vögel gegenseitig erkennen können.
Sie können sich aber auch lautlos austauschen: Experimente am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Seewiesen (D) belegen, dass Kolkraben mit Gesten kommunizieren – indem sie etwa Kopf und Schultern heben und senken, mit dem Schwanz wedeln, verschiedene Federn aufstellen oder die Flügel öffnen. Und wenn ein Vogel auf ein Objekt aufmerksam machen will, nimmt er es in den Schnabel, um es dem anderen zu zeigen. Da sich Sprache aus solchen visuellen Zeichen entwickelt, will man die Kolkraben in einer Langzeitstudie beobachten. Demnächst sollen dazu neue Ergebnisse herauskommen.
Kolkraben waren bis 1950 fast ausgerottet
Simone Pika, heute Professorin am Institut für Kognitionswissenschaft der Universität Osnabrück (D), begleitete die Studie am Max-Planck-Institut. Dieses Frühjahr veröffentlichte sie zusammen mit anderen Forscherinnen einige weitere Erkenntnisse in einer Wissenschaftszeitschrift: Demnach waren während der Untersuchungsperiode bei den Kolkrabenpärchen rund 50 verschiedene nonverbale Zeichen auszumachen. Je länger die Beziehung dauerte, umso mehr passten sich die Vögel in der Ausdrucksweise an und verlagerten die Kommunikation von den Gesten zum Gesang – krähen statt flattieren ist in den monogamen Ehen der Kolkraben auf die Dauer angesagt.
Kolkraben sind mit einer Flügelspannweite von 1,1 bis zu 1,3 Metern und einem maximalen Körpergewicht von 1,5 Kilogramm die grössten Singvögel. Sie sind gemeint, wenn man landläufig von Raben spricht. Da sie durch rigorose Bekämpfung wegen angeblicher Schädigung der Landwirtschaft und uralter Ängste zwischen 1870 und 1950 aus Mitteleuropa weitgehend verschwanden und Restbestände nur in den Alpen überlebten, sieht man sie heute im Schweizer Mittelland vergleichsweise selten – der landesweite Bestand beträgt 2000 bis 3000 Paare.
Mit 80’000 bis 120’000 Paaren ist die etwas kleinere Rabenkrähe – ein Meter Flügelspannweite, 600 Gramm Gewicht – bei uns öfters zu sichten. Sie ist damit die häufigste Art innerhalb der heimischen Rabenvögel, zu denen auch Dohlen, Eichelhäher, Elster oder Nebelkrähe gehören.
Geradschnabelkrähen basteln Werkzeuge
Mit Ausnahme des Südens von Südamerika und der Polargebiete sind Rabenvögel überall auf der Welt zu finden. Die auf den Pazifikinseln Neukaledoniens (F) heimische Geradschnabelkrähe zeichnet sich bei Forschungen durch besondere Intelligenz aus: Schon länger ist bekannt, dass der Vogel zum Nahrungserwerb Werkzeuge benutzt. Nun entdeckten wiederum Forscherinnen am deutschen Max-Planck-Institut für Ornithologie zusammen mit Kollegen der britischen Universität Oxford, dass die Geradschnabelkrähen fähig sind, aus mehreren Komponenten neue Werkzeuge herzustellen – eine Fähigkeit, die ein Mensch erst ab dem fünften Lebensjahr beherrscht.
«Meiner Meinung nach haben Rabenvögel zusammen mit Papageien die Verhaltensforschung bei Tieren revolutioniert und eindrücklich demonstriert, dass sich Intelligenz und intelligentes Verhalten nicht alleine auf Menschen und Menschenaffen beschränkt», sagt Martina Schybli von der Vogelwarte Sempach.
Im vorliegenden Fall bekamen acht Geradschnabelkrähen eine Kiste präsentiert, die sie zuvor noch nie gesehen hatten: Hinter einer durchsichtigen Tür mit einem Spalt lag ein Leckerbissen, der mit dem Schnabel nicht erreichbar war. Sie hatten aber einen Stab zur Verfügung, mit dem sie das Essen durch eine seitliche Öffnung rausschieben konnten – alle Vögel schafften das. In einem weiteren Versuch lag das Essen weiter hinten, sodass sie mit dem Stab nicht mehr rankamen, sehr wohl aber, wenn man drei, vier Teile zusammensteckte – eine Geradschnabelkrähe hatte die Intelligenz dazu und holte sich den Leckerbissen.
Eine diese Woche veröffentlichte Studie der «Royal Society» beweist sogar Planungsfähigkeit der Geradschnabelkrähen: Ein Team aus Wien (A) und Cambridge (Grossbritannien) zeigte den Vögeln Gefässe mit Futter und unterschiedliche Werkzeuge, mit denen sie daran kommen konnten oder eben nicht. Nach einer gewissen Zeit standen die Krähen vor derselben Aufgabe – und sie wählten mit Treffsicherheit das Werkzeug, das ihnen Zugang zum begehrten Fleischstück verschaffte.
Zwei Raben im Wappen von Einsiedeln
Rabenvögel ernähren sich vielseitig, wodurch sie sich der jeweiligen Gegend anpassen können. Nicht wenige fressen Aas, weshalb sie früher häufig bei Hinrichtungsstätten anzutreffen waren. Das Gemälde «Die Elster auf dem Galgen» (1568) von Pieter Bruegel dem Älteren (1525–1569) ist ein frühes Zeugnis dafür. Und es trug dazu bei, dass sich das Bild des Rabenvogels als dämonisches Wesen aus der Totenwelt im Aberglauben der Menschen einprägte.
Rabenvögel zehren nicht bloss vom Tod, sie führen auch zu ihm – davon kündet die Sage um Meinrad von Einsiedeln (797–861): Zwei Landstreicher sollen ihn erschlagen haben, worauf zwei Raben die Mörder bis zur Wirtschaft im Zürcher Rabenhaus verfolgten, wo man die Täter überführte und auf dem Scheiterhaufen hinrichtete. Am Ort der Ermordung von Meinrad steht heute das Kloster von Einsiedeln SZ – und im Wappen der Gemeinde sind zwei Raben abgebildet.
Ob in dieser Sage, dem eingangs erwähnten Gedicht oder in Schwärmen über Häuser ziehend: Immer wieder suchen Rabenvögel die Nähe zu uns Menschen. So brüten in der Schweiz rund 60 Prozent der Saatkrähen in Städten, Rabenkrähen fressen Tierkadaver an Strassenrändern, und in den Bergen betteln Alpendohlen Wanderer um Futter an. Für Martina Schybli von der Vogelwarte Sempach ist das nicht besorgniserregend: «Es gehört schlichtweg zum anpassungsfähigen Naturell der Rabenvögel.» Sie sind quasi ein Teil von uns.