«Wer macht denn so was?», titelte kürzlich die «Berner Zeitung». Es ging um zwei Zwergkaninchen, die im Wald ausgesetzt wurden. Die Meldung bewegte die Gemüter: Der Artikel war der meistgelesene auf dem Online-Portal der Zeitung. Die Polizei meldete, Ermittlungen wegen Tierquälerei aufgenommen zu haben.
Auch ich finde Zwergkaninchen süss und wünsche keinem Tier, dass es in den sicheren Tod geschickt wird. Aber ich staune immer wieder, wie unterschiedlich unser Mitgefühl für Tiere ist. Für manche Lebewesen entwickeln wir eine tiefe Empathie und empören uns, wenn es ihnen schlecht geht. Das Leid anderer Tiere nehmen wir schulterzuckend zur Kenntnis. Ist das Leben eines Zwergkaninchens so viel mehr wert als – zum Beispiel – jenes eines Aals?
Abstieg in die Turbine
Der Aal ist nämlich eines jener Tiere, die sehr wenig Anteilnahme bei uns auslösen. Der etwas eklige Fisch ist zum Kuscheln gänzlich ungeeignet. Jeden Tag verenden Aale in unseren Wasserkraftwerken. Fischtreppen ermöglichen zwar den Aufstieg, beim Abstieg geraten aber viele Fische in die Turbinen, weil sie dem Hauptstrom folgen. Stellen Sie sich vor, die «Berner Zeitung» hätte geschrieben: «Aal in Wasserkraftwerk verletzt». Hätte der Text die meisten Klicks erzielt und würde die Polizei wegen Tierquälerei ermitteln?
Start vor den Bermuda-Inseln
Man muss den Aal nicht herzig finden, aber es lohnt sich, mehr über ihn zu erfahren. Seine Lebensreise gehört zu den grössten Abenteuern, welche die Tierwelt zu erzählen hat. Das Leben eines Europäischen Aals beginnt in der Sargassosee – vor den Bermuda-Inseln. Hier paaren sich die Aale, und die Larven machen sich auf die 6000 Kilometer lange Reise nach Europa. Nach zwei, drei Jahren stossen sie auf eine Küste, siedeln sich dort an oder dringen ins Landesinnere ein. Dort fressen sie sich bis zu zwanzig Jahre lang Reserven an, bis sie zu ihren Ursprüngen zurückkehren. Wie die Aale diese lange Reise prästieren, darüber weiss man wenig. Offenbar nutzen sie Meeresströmungen und tauchen dabei bis zu 1000 Meter tief ab.
Bestände sind eingebrochen
Als in der Schweiz noch keine Kraftwerke die Flüsse verbarrikadierten, gehörten die Aale zu den häufigsten Fischarten. Die Bestände des Europäischen Aals sind seit den 1980er-Jahren um 95 Prozent eingebrochen. Auf wanderfische.ch läuft seit einigen Tagen eine Petition, die fordert, dass Kraftwerke aufgerüstet werden, um die Wanderung der Fische zu ermöglichen. Die Unterstützung ist, wen wunderts, bislang eher bescheiden.
Simon Jäggi (38) ist Sänger der Rockband Kummerbuben, arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern und hält Hühner. Wissenschaftlicher Rat: Prof. Christian Kropf.