Es sind harte Geschichten, die James Scully aus seiner Arbeitswelt erzählt. Von Fotografen, die schwangere Models eiskalt vor der Kamera Purzelbäume schlagen lassen. Von Catwalk-Managern, die dünne Frauen drei Monate hungern lassen, damit sie noch mehr abnehmen. Und sich danach doch nicht für sie interessieren.
Scully ist nicht irgendwer, er gehört seit den 1990er-Jahren zur Elite seines Metiers. Das Branchenportal «Business of Fashion» zählt ihn zu den wichtigsten Menschen im Modezirkus. Der New Yorker ist Casting Director und sucht für Top-Designer wie Tom Ford oder Stella McCartney bei Agenturen nach passenden Models für deren Modenschauen und Werbekampagnen. Eine Machtposition, mit der sich Schönheitsideale ganzer Generationen prägen lassen.
Trotzdem hat sich der sensibel wirkende Gentleman schon öfters frustriert aus der Glamourwelt zurückgezogen. Unlängst entschloss er sich, Missstände, die ihn plagen, öffentlich zu machen. Ein Tabubruch in der so verschwiegenen Modebranche.
Seit Anfang Jahr nennt Scully, der erste Fashion-Wistleblower, auf Social-Media-Kanälen konkrete Beispiele, inklusive des Namens der Sünder. Zum Beispiel den eines Casting-Duos, das 150 Models in einem stockdunklen Treppenhaus einsperrte, während es gemütlich in die Mittagspause ging. Einige der Mädchen wandten sich an Scully. Dank ihm erfuhr der Auftraggeber des Castings, das Modehaus Balenciaga, von den Übeltätern – und kündigte ihnen sofort.
Sehr jung, sehr weiss, sehr herzig, sehr arm
Warum lassen Models überhaupt so etwas mit sich machen? Die Frage ist schnell beantwortet: Ein grosser Teil sind Teenager aus armen, meist osteuropäischen Staaten. Ihr Aussehen ist für sie ein Ticket in eine bessere Welt. Für Erfolg würden sie fast alles über sich ergehen lassen. Das Idealbild eines Models, so Skullys Kritik, sei ein herziges, lolitahaftes Wesen mit knabenhafter Statur und sehr weisser Haut. Sobald es in die Pubertät komme, werde es ersetzt. Es dürfe auf dem Laufsteg keinerlei Feminität zeigen, Hüfte und Arme nicht bewegen und keinen Blickkontakt zum Publikum herstellen. Scully: «Im Grunde genommen sagt man zu diesen Mädchen: ‹Sei ein Junge!›»
Das war nicht immer so. Supermodels wie Naomi Campbell oder Linda Evangelista dominierten die 1990er, gerade weil sie ihre Persönlichkeit mit vor die Kamera nahmen. Damals wollten Designer Lebensfreude vermitteln, sagt Scully, jetzt gelte es bei vielen als cool, möglichst keine Emotionen zu zeigen. «Das darf nicht sein. Vor allem in der heutigen Zeit muss die Mode doch ein Ort sein, an dem man Spass haben darf.»