Als mich vor langer Zeit Zahnschmerzen plagten und ich für jede Tätigkeit ausschied, als ich mich wälzte im Bett, als ich aufstand und zum zehnten Mal den Medikamentenschrank durchwühlte, um vielleicht doch ein Mittel zu finden, das mich durch diese verdammte Nacht bringen würde, bevor ich gleich am frühen Morgen zum Zahnarzt eilen und wieder ein normaler Mensch werden konnte, da pochte nicht nur der Premolar, der Backenzahn, es begannen auch ein paar Fragen mein Hirn zu traktieren, Fragen, die mich, obwohl längst geheilt und des faulen Zahnes entledigt, seither nicht mehr losgelassen haben.
Warum erinnere ich mich jedes Mal, wenn ich vor dem Spiegel stehe und mich anschicke, die Zähne zu putzen, an jene Schreckensnacht? Wie hat sie mein Leben verändert, welchen Einfluss hatten diese Schmerzen auf mein Denken, auf meine Kunst? Und was, um Himmels willen, wäre geschehen, wenn dieser Schmerz geblieben wäre?
Einem Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts, einem Bürger eines Staats mit einem ausgezeichneten Gesundheitssystem wird das kaum passieren, eine Tatsache, für die man nicht dankbar genug sein kann. Doch die Generationen vor mir hatten keine moderne Medizin, für viele gehörte Schmerz zum Alltag, ja man kann sagen, der Schmerz ist eine kulturelle Konstante – und gleichzeitig, so sehr wir ihn hassen, ist er eine physiologische Notwendigkeit.
Ewiger Schmerz, ewige Hölle
Ein Mensch, der keine Schmerzen kennt, wird nicht lange leben. Ihm fehlt das Alarmsystem, das ihn vor grösserem Schaden bewahrt. Wir brauchen den Schmerz zum Leben – und gleichzeitig fürchten wir ihn wie nichts anderes. Der ewige Schmerz ist gleichbedeutend mit der Hölle – doch ebenso kann er uns erheben, heiligen, er transzendiert das Bewusstsein. Die Leiden, die jemand willentlich in Kauf nimmt, inspirieren seine Mitmenschen. Und Künstler, wenigstens im westlichen Kulturkreis, leben mit der Redensart: Grosses Leiden schafft grosse Kunst.
Offensichtlich ist der Schmerz voller Widersprüche und Geheimnisse. In ihm steckt das Geheimnis des Lebens, der Gesundheit, des Bewusstseins. Er ist Gegenstand der Wissenschaft, die ihn zu verstehen sucht, um ihn zu lindern. Seine Darstellungen in der Malerei, die Schilderungen in der Literatur erschliessen ihn als anthropologische Konstante. Die Belege in der Philosophie sind zahllos und oft vielfältig. Was weiss die Wissenschaft über diesen Freund, der zum Feind werden kann? Viel, längst nicht -alles, und was sie weiss, weiss sie erst seit kurzer Zeit.
Die Wissenschaft unterscheidet verschiedene Schmerzarten und verschiedene Nervenbahnen, die Impulse unterschiedlich schnell ins Hirn leiten. Wer eine heisse Herdplatte berührt, soll die Hand auf der Stelle zurückziehen. Neurochemische Systeme in unserem Körper ermöglichen eine unmittelbare Reaktion auf lebensbedrohliche Situa-tionen. Umgekehrt vermag der Körper Schmerzen zu unterdrücken, um Reserven zur Flucht oder zum Kampf zu mobilisieren. Schmerz ist Schutz- und Alarmsystem. Menschen, denen die Empfindung fehlt, erleiden Verletzungen. Schmerz mahnt uns, aufmerksam zu bleiben und keine unnötigen Risiken einzugehen.
Schmerzen aus dem Höllengrau
Die Wissenschaft, und dies nur am Rande, hat dem Ort im Hirn,
wo der Schmerz zu Hause ist, einen poetischen Namen gegeben: das zentrale Höhlengrau. Dies und noch viel mehr findet man in den einschlägigen Lehrbüchern. Ohne Zweifel ist der Schmerz in jeder Hinsicht ein spannendes Phänomen, doch eine Frage bleibt entscheidend: Auf welche Weise hat die Wissenschaft ihre Erkenntnisse gewonnen? Wie findet man heraus, warum manche Körperteile empfindlicher sind als andere? Und warum Zahnschmerzen so übel sind, und was mir eigentlich genau weh tut – der Premolar oder das Gehirn?
Um dies alles zu klären, braucht es zunächst Forscher, und einer -ihrer Pioniere war ein gewisser -Albrecht von Haller. Als Schriftsteller schenkte er fast nebenbei der Schweizer Literatur ihren wichtigsten Topos, den sie seither, zu ihrem Vorteil oder Schaden, trotz mancherlei Versuchen seit dem Jahr 1729 nicht losgeworden ist. Hallers Gedicht «Die Alpen» bleibt die Gründungsurkunde der einschlägigen Dichtung. Aber zuvorderst war dieser Mann nicht Dichter, sondern Arzt und Wissenschaftler.
Geboren 1708 in Bern, nach langen Aufenthalten im Ausland, in Göttingen, Paris und Leiden, starb er im Jahr 1777 ebenda. Ein Mann vieler Talente, bewies er in jeder Disziplin, der er sich zuwandte, ob in der Botanik, der Physiologie oder der Anatomie, einen ungeheuren Fanatismus. Jedes Fach stellt andere Ansprüche. Für die Botaniker ist jede Wiese, jeder Wald ein Labor; für einen Anatom liegen die Antworten hingegen im Körper verborgen. Und wer, wie Haller, viele Fragen hat, muss viele Körper untersuchen, braucht manche Leiche, die er mit dem Messer sezieren und präparieren kann.
Die Beschaffung von Leichen war für Haller deshalb eine ständige Sorge. Es gab nie genug Untersuchungsmaterial, obwohl er weiss Gott nicht wählerisch war. Er nahm buchstäblich jeden Kadaver, den er finden konnte. In Paris, wo er eine Zeitlang tätig war, liess er sich die Toten aus den Leichenhäusern, den Friedhöfen und sogar von den Hinrichtungsstätten bringen. Und wenn man sie nicht freiwillig herausrückte, liess er sie eben stehlen.
Haller seziert seinen Sohn
Hallers Fanatismus für die Wissenschaft zeigt sich besonders deutlich im Winter 1752. Als sein eigener Sohn stirbt, der kleine Garolus Gottlieb Albrecht, scheut er nicht zurück, die Leichenöffnung persönlich vorzunehmen. In der Aorta seines toten Kindes findet der Vater einen Polypen, im Lungenfell Eiweisse und viel Wasser im Herzbeutel. Haller war ein Meister seines Faches, seine Präparate waren berühmt in ganz Europa und brachten ihm frühen Ruhm. Er wurde an die gerade erst gegründete Universität von Göttingen berufen, Haller war Mitglied der Akademien in Stockholm, Paris und London und erhielt von Kaiser Franz I. schliesslich den Adelstitel.
Doch trotz aller Erfolge stand Albrecht von Haller als Physiologe vor einem Problem. Die Anatomie war eine vergleichsweise simple Wissenschaft. Sobald eine Leiche auf seinem Sektionstisch lag, brauchte Haller nichts als Ausdauer und Akribie, um etwa die Struktur des Gewebes oder einer Bindehaut zu beschreiben. Doch unglücklicherweise hatten seine Leichen ein Problem, das Leichen üblicherweise an sich haben: Sie waren tot. Die Physiologie jedoch betraf den Körper als lebendigen Organismus – mit seinen Kadavern kam er hier nicht weiter.
So wurde der Dichter Albrecht von Haller zu einem der ersten Wissenschaftler, die Tierversuche im grossen Massstab durchführten. Im Jahr 1754, da war er 46, bezifferte er die Zahl der verbrauchten Versuchstiere auf 190, und in einem Kommentar, den er ein paar Jahre später verfasste, war diese Zahl schon auf über 400 angewachsen.
Hallers Alltag war ein Grauen, sein Labor eine Stätte des Leidens. Um den Schmerz untersuchen zu können, musste er ihn zuerst verursachen. Seine Berichte zeugen vom Horror, den er anrichtete, danach beobachtete und schliesslich protokollierte. Haller beschreibt ausführlich die Methoden, mit denen er vor allem Katzen und Hunde unter-suchte. Er tötete Hunde -während der Kopulation und untersuchte unmittelbar danach die noch erregten Geschlechtsorgane. Er öffnete Katzen die Gelenkkapseln und verätzte sie mit Säure. Ein Tier, dessen Ischiasnerv Haller freigelegt, versengt, verätzt, zerschnitten hatte, litt in seinem Käfig unter entsetzlichem Winseln, bis es schliesslich nach 20 Tagen starb.
Erst winselnd, dann zuckend
Die Körperpartie, die er examinieren wollte, öffnete er mit einem Skalpell. Bis sich das Tier ein wenig beruhigt hatte, dann ...
«... erst dann habe ich dem ruhigen und nicht winselnden Tiere den erwähnten Teil durch Einblasen, durch Wärme, mit Branntwein, mit dem Messer, mit dem Höhlensteine, mit Ätzsteinen, mit Vitriolölen, mit Spiessglas-butter -fixiert und Acht gehabt, ob das Tier bei der Berührung, beim Einschneiden, beim Zerschneiden, beim -Versengen, bei der Zerreissung des Teiles aus seiner Ruhe und Stille komme, ob es sich schüttele und rüttele, ob es das Glied an sich ziehe oder der Verwundung entreisse.»
So geht es über viele hundert -Seiten. Ein Kompendium des Schreckens. Sehen wir hier einen Sadisten am Werk? Gewiss nicht. Haller war ein frommer Mann. Er glaubte an Gott und die Heiligkeit seiner Schöpfung. In den Briefen an seinen Pfarrer spricht er von den Gewissensbissen, von der Seelenqual, in die ihn seine Experimente stürzten. Er rechnete damit, sich vor seinem letzten Richter für seine Taten eines Tages verantworten zu müssen.
Welche Rechtfertigung fand Haller für seine Taten? Daran
lässt er keinen Zweifel: «Ich habe in der Tat hier bei mir selbst verhasste Grausamkeiten ausgeübt, die aber doch den Nutzen für das menschliche Geschlecht und die Notwendigkeit entschuldigen werden ...»
Die Versuche waren kein Selbstzweck, es ging um den Nutzen
für das menschliche Geschlecht. Haller stellte sich in den Dienst des wissenschaftlichen Fortschrittes. Nur dieser zwang ihn zu diesen Grausamkeiten. Er wollte mit dem spekulativen Hokuspokus aufräumen und gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis erlangen. Es ging ihm um harte, belastbare Fakten. Seine innovativen Methoden hatten mächtige Gegner, und auch wir Zeitgenossen mögen Hallers Vivisektionen verabscheuen – und doch müssen wir dem Forscher zustimmen, wenn er 1763 schreibt: «Diese Grausamkeit hat aber auch einer wahren und zuverlässigen Physiologie mehr wertlichen Nutzen verschafft als das, was von allen übrigen Künsten zu erwarten ist, unter deren Beistand unsere Wissenschaft zugenommen hat.»
Meine Linderung schulde ich Versuchstieren
Wenn ich in der Apotheke ein Analgetikum gegen meine Zahnschmerzen kaufe, verdanke ich die Linderung meiner Pein auch den Versuchen eines Albrecht von Haller. Ich schulde sie den Versuchstieren, die bei der Suche nach Erkenntnis ihr Leben lassen mussten.
Hallers Laborberichte öffnen einen Blick auf den Fortschritt; wir sehen ihn bei der Arbeit, blicken in seine Mechanik und erkennen eine Aporie, eine Ausweglosigkeit, die diesem zentralen Begriff der modernen westlichen Gesellschaft von allem Anfang innewohnt. Ein Widerspruch, aus dem sie bis heute keinen Ausweg gefunden hat.
Um die Lebensfunktionen zu verstehen, muss Haller einen Körper öffnen. Er muss in Gottes Schöpfung eindringen und sie damit zerstören. Fortschritt bedeutet Erkenntnis um den Preis der Zerstörung. Dieses Prinzip betrifft bei weitem nicht nur Physiologen. Jeder aufgespiesste Käfer im Naturgeschichtlichen Museum zeugt davon.
Den unbeteiligten Beobachter gibt es nicht, er wird das System, dem er seine Aufmerksamkeit widmet, stören, das wissen wir spätestens seit den Arbeiten Werner Heisenbergs. Er wird dabei, wie Haller, auf Widerstand stossen, und wie Haller wird er diesen Widerstand zu brechen versuchen, um dem Wohl der Wissenschaft zu dienen. Wer auch nur seinen Kindern den Aufbau eines Ameisenhügels erklären will, wird einen Stock nehmen und Teile des Hügels freilegen. Die Ameisen wird das nicht freuen, natürlich, aber für das Wissen, für die Wissenschaft ist dieser Eingriff notwendig und unerlässlich.
Tierversuche: Streng reglementiert
In den meisten westlichen Staaten sind die Tierversuche mittlerweile streng reglementiert. Für eine Bewilligung braucht es triftige Gründe. Kommissionen wägen ab zwischen dem Leid des Tieres und dem erwarteten Nutzen für die Allgemeinheit. Der ethische Konflikt ist damit nicht aus der Welt.
Vor einiger Zeit wollten Forscher an der Universität Zürich Versuche mit Rhesusaffen unternehmen. Es ging darum, den Tieren Elektroden ins Hirn zu setzen, ihnen danach einige Aufgaben beizubringen und dabei die Hirnströme zu messen. Nachdem das Gesuch von der zuständigen Ethikkommission bewilligt war, legten die beiden Beisitzer der Tierschutzorganisationen Beschwerde ein. Die Belastungen, denen die Affen ausgesetzt würden, seien in Abhängigkeit zum Erkenntnisgewinn nicht gerechtfertigt. Mit anderen Worten: zu viel Schmerzen, zu wenig Wissen.
Die Forscher entgegneten, dass niemand voraussagen könne, welcher Erkenntnisschritt zu einem wissenschaftlichen Durchbruch führe. Und zudem seien von den Krankheiten, deren Heilung man mit den Versuchen näherkommen wolle, viele Millionen Menschen betroffen; die Güterabwägung würde in diesem Fall eindeutig für die Forschung ausfallen.
Die Forscher gaben damit zu, dass sie eine Grenze überschreiten, die Interessen des Tieres miss-achten, die Tiere im wahrsten Sinne des Wortes opfern wollten, um einer Sache näherzukommen, die erstens abwesend und zweitens abstrakt ist.
Forscher anklagen: zu einfach
Das Wohl der kommenden Generationen ist abwesend, anwesend allerdings sind der Schmerz und das Leid des Tieres, das ignoriert werden muss, um einem abwesenden, zukünftigen, eigentlich fiktiven, weil nur vorgestellten Wohl zu dienen.
Es wäre zu einfach, die Forscher deswegen anzuklagen: Wir alle sind Teil dieser Aporie, denn natürlich haben die Forscher recht, wenn sie betonen, dass es keine Errungenschaft in der modernen Medizin gebe, die nicht direkt oder indirekt auf Tierversuche zurückgehe. Ohne diese Experimente gäbe es keine Antibiotika, keine Krebsmedikamente, keine moderne Chirurgie, und wer sich gegen Tierversuche stelle, müsse konsequenterweise auf diese Dinge verzichten.
Wir alle sind Komplizen. Der Fortschritt muss Grenzen missachten, der Fortschritt brutalisiert uns, und als Nutzniesser sind wir mitschuldig. Die Verzweckung eines Lebens zum Wohle eines anderen ist nicht restlos zu legitimieren.